Unruhige Zeiten: Kasachstan nach Nasarbajew

© Deutschlandfunk Kultur, Weltzeit, 27.08.2019, 20 min, Edda Schlager

Im Juni wurde in Kasachstan unter Protest ein neuer Präsident gewählt, nachdem Nasarbajew überraschend zurückgetreten war – der Neue gilt als Marionette des alten Präsidenten, die Menschen protestieren weiter – das Land ist in unruhige Zeiten geschlittert.

Über dem kleinen Städtchen Arys im Süden Kasachstans steht die Mittagshitze – 45 Grad, die Luft flimmert. An der Hauptstraße, steht eine Reihe kleiner Wohnhäuser. Vor Nummer 9 laden Bauarbeiter mit nackten Füßen in Badeschlappen Holzbohlen und Bretter von einem LKW und schleppen sie in den Hof.

Der Dachstuhl des Hauses liegt offen, im gesamten Innenhof sind neue Balken verteilt. Daneben liegen Überreste des alten Dachs – Holzlatten und Asbestplatten, mit denen die Häuser in Arys üblicherweise gedeckt sind.

„Die Druckwelle hat die Dächer eingedrückt. Hier, die Reste des alten Dachs. Das ist einfach eingebrochen.“

Kalbibi Baimishova, Mutter von sechs Kindern, vor ihrem zerstörten Haus.

Erzählt einer der Bauarbeiter. Die Männer gehören zu einem der Dutzenden Bautrupps, die derzeit in Arys unterwegs sind. Fast ein Viertel der Häuser der 45.000-Einwohner-Stadt muss repariert oder sogar neu aufgebaut werden. Denn am 24. Juni hatte eine gewaltige Explosion den Ort erschüttert. Nur ein paar hundert Meter vom Ort entfernt liegt ein Sprengstofflager der kasachischen Armee. An jenem Montag, morgens um halb zehn, war ein Großteil der dort gelagerten Munition in die Luft geflogen. Wie durch ein Wunder kamen nur zwei Soldaten und ein Zivilist bei der Explosion ums Leben. Hunderte Menschen wurden verletzt. Bis heute dauern die Aufräumarbeiten noch immer an.

Unruhige Zeiten auch in ländlichen Gegenden

Bei Kalbibi Baimishova auf dem Hof ist kein Baulärm zu hören. Ihr Haus gibt es nicht mehr. Eine zertrümmerte Wand markiert die Grenze zu ihrem Nachbargrundstück. Die 53-Jährige steht in einem hellblauen Kleid verloren neben einer planierten Fläche. Kalbibi, die drei jüngeren ihrer sechs Kinder und ihre Mutter wohnen jetzt in der Sommerküche.

Als das Munitionslager explodierte, erinnert sie sich, war sie zur Arbeit. Sie hilft im örtlichen Krankenhaus als Putzfrau. Dort habe man sofort die Kranken evakuiert, sie selber sei wegen ihrer alten Mutter nach Hause gerannt, erzählt sie.

„Als ich ankam, waren alle Fenster zerbrochen. Ich hab meine Mutter in den Rollstuhl gesetzt, und ohne irgendwas einzupacken, sind wir einfach losgelaufen.“

Mittlerweile ist klar, Kalbibi und ihre Familie werden ein neuen Haus bekommen. Erinnerungen und wichtige Dokumente aber gibt ihr keiner zurück. Den Plan für das neue Haus hat sie einfach unterschrieben. Welche Wahl habe sie denn gehabt, fragt sie.

Auelkhan Shonzhan ist als einer von ganz wenigen nach der Explosion in Arys geblieben.

„Wir sind denen doch völlig egal!“

Für die kasachischen Behörden ist das Thema Arys nahezu abgeschlossen. Die Regierung hat den Wiederaufbau der Stadt angeordnet. Strafrechtliche Konsequenzen wird die Explosion des Sprengstofflagers wahrscheinlich nicht haben. Verteidigungsminister Nurlan Yermekbayev hatte Anfang Juli erklärt, in Munitionslagern sei so eine Explosion ein „natürliches Phänomen“. Doch für viele Bewohner von Arys ist die Explosion eine hoch politische Angelegenheit – auch wenn die meisten, so wie Kalbibi, dazu aus Angst lieber nichts sagen. Innerhalb von zehn Jahren hat es bereits vier solcher Vorfälle gegeben. Einschließlich der jetzigen Opfer starben insgesamt zehn Menschen. Dass die kasachische Regierung die Katastrophe in Arys unter den Tisch kehren will, macht auch Auelkhan Shonzhan wütend.

„Die haben gewusst, dass früher oder später was passieren wird. Seit 30 Jahren schleppen die das Zeug hierher, warum bringen die das nicht in die Steppe? Soll es doch da explodieren. Aber wir sind denen doch völlig egal!“

Auelkhan, ein 65-jähriger Rentner, hat ein Geschwür an der Hüfte, das ihn ans Bett fesselt. Während seine Frau sich um Haushalt und die Tiere kümmert, verbringt der ehemalige Buchhalter die meiste Zeit im Internet. Der Laptop auf einem Stuhl an seinem Bett, das Smartphone daneben. Auelkhan war nach der Explosion als einer von ganz wenigen in Arys geblieben. Sein Haus liegt auf der anderen Seite der Stadt und ist heil geblieben. Sobald es Strom gab, berichtete er auf Facebook, was in Arys passiert war.

Und er bekam selbst durchs Internet mit, dass die Evakuierten in Shymkent auf die Straße gingen.

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