20 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs in Tadschikistan droht ein neuer Konflikt. Im Kampf gegen den islamistischen Terror geht nicht nur die Religionsfreiheit verloren, sondern auch die Hoffnung auf einen säkularen Rechtsstaat.

Runderneuert steht die Moschee in dem kleinen Dorf nahe der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe. Der mit Teppich ausgelegte Hauptsaal unter der Kuppel bietet jetzt etwa 300 Betenden Platz. Doch so viele, erzählt Wächter Parviz, kämen schon lange nicht mehr hierher. Parviz heisst eigentlich anders; um ihn zu schützen, dürfen weder sein richtiger Name noch jener seines Dorfes genannt werden. Die Angst ist allgegenwärtig in Tadschikistan: vor der Härte des Staates, von der ergriffen werden kann, wer öffentlich Freiheiten lebt – jene auf Meinungsäusserung etwa, oder auf Religionsausübung. «Die Leute haben Angst, öffentlich zu beten, und tun dies lieber zu Hause.»

Die zentralasiatische Ex-Sowjetrepublik Tadschikistan mit ihren acht Millionen Einwohnern ist muslimisch geprägt und kulturell eng mit dem benachbarten Afghanistan verbunden. Ähnlich wie in den Nachbarländern hat der Islam hier seit dem Ende der Sowjetunion im Jahr 1991 eine Renaissance erlebt. Als die UdSSR unterging, gab es landesweit nicht einmal 20 Moscheen. Heute sind bei der staatlichen Behörde für religiöse Angelegenheiten mehr als 4000 muslimische Gotteshäuser registriert.

Moschee-Wächter Parviz, jenseits der 60, mit nur noch wenigen Zähnen im Mund und einem bunten Käppi auf dem Hinterkopf, erinnert sich. «Vor ein paar Jahren war die Moschee hier zum Freitagsgebet so voll, dass die Leute bis auf die Strasse standen.» Von dieser Lebendigkeit ist heute nur noch wenig zu spüren. Als der Muezzin an diesem Nachmittag zum Gebet ruft, kommen nur ein paar Männer mittleren Alters eilig angelaufen, schlüpfen aus ihren Sandalen und lassen sich im bescheidenen Vorraum zum Gebet nieder. Selbst hier wirken sie verloren. «Mittlerweile sind Jüngere und Frauen in Moscheen nicht mehr erwünscht», sagt Parviz. Offen Kritik zu äussern, das wagt er allerdings nicht. Wie viele Tadschiken flüchtet er sich stattdessen in Fatalismus: «Zu Sowjetzeiten war das Beten komplett verboten, jetzt ist es eben nur den Älteren erlaubt.»

Kopftücher verschwinden aus dem Strassenbild

Was Parviz in seinem Dorf erlebt, ist die zunehmende Einschränkung der Religionsfreiheit durch staatliche Behörden in Tadschikistan. Meldungen über absurde Verbote und Vorschriften häufen sich: Nur kurze Bärte sind erlaubt. Statt dunkler Kleider sollen Frauen die tadschikische Nationaltracht aus buntem Atlas tragen. Kopftücher werden zwar geduldet, verschwinden aber aus dem Strassenbild. Bei Nichteinhaltung drohen Strafen. Erst Anfang Januar nannte das US-Aussenministerium Tadschikistan als eines von elf Ländern, in denen die Religionsfreiheit systematisch verletzt würde.

Die tadschikische Regierung erklärt, nur dem islamistischem Extremismus vorbeugen zu wollen. Zentralasien gilt als eine der Keimzellen des islamistischen Terrorismus. Viele Attentäter internationaler islamistisch motivierter Anschläge stammen aus der Region. Einem im Oktober 2017 veröffentlichten Bericht des New Yorker Soufan Center zufolge haben sich rund 5000 Kämpfer aus Zentralasien islamistischen Milizen im Nahen Osten angeschlossen – allein 1300 davon sollen aus Tadschikistan stammen. Die Position der tadschikischen Regierung ist zum Teil nachvollziehbar: Das religiöse Leben solle im Privaten stattfinden, sagt Faisullo Safarov, Vizechef des Instituts für strategische Studien in Duschanbe, einem regierungstreuen Thinktank. «Im theokratischen Iran sind die Frauen draussen verschleiert, zu Hause kleiden sie sich wie Europäerinnen – bei uns soll das genau umgekehrt sein.» Man halte sich schlicht an die Vorgaben der säkularen Verfassung, so Safarov.

Hoffnung auf einen säkularen Rechtsstaat verschwindet mit verbotener Opposition

Das muslimische Tadschikistan ist, wie die ex-sowjetischen Nachbarländer, bis heute säkular. «Das sowjetische Bildungssystem», so Edward Lemon, Wissenschafter an der Columbia University in New York, «hat eine Spaltung zwischen einem guten und einem bösen Islam etabliert.» Das schüre bis heute Vorbehalte. «Die Regierung nutzt dies ganz bewusst, um einen inneren Feind zu schaffen.» Zunehmend wird der Kampf gegen den Terrorismus in Tadschikistan als Vorwand genutzt, um Kritiker des seit 1994 amtierenden Präsidenten Emomali Rahmon auszuschalten. 2015 verbot die Regierung die Islamische Partei der Wiedergeburt Tadschikistans (IRPT) und erklärte die bis dahin einzige im Parlament vertretene Oppositionspartei des Landes zu einer «extremistischen Gruppierung». Die Tragweite dieses Schritts könnte sich als fatal erweisen. Anders als in den Nachbarländern ging der Umbruch nach dem Zerfall der Sowjetunion in Tadschikistan nicht friedlich vonstatten. 1992 brach ein blutiger Bürgerkrieg zwischen Altkommunisten, islamischen Fundamentalisten und demokratischen Kräften aus. Mehr als 150 000 Menschen starben. Beendet wurde der Bürgerkrieg 1997 mit einem Friedensvertrag zwischen den Konfliktparteien. Indem man der islamischen Opposition, repräsentiert durch die IRPT, einen Drittel aller Regierungsposten zubilligte, wurden regierungskritische Kräfte gebunden.

Das Verbot der IRPT, fürchtet der tadschikische Islamwissenschafter Saida­khmad Kalandarov, hat das seit Jahren sorgfältig austarierte Machtgefüge unterschiedlicher Interessengruppen in Tadschikistan ausser Balance gebracht. «Die Partei hat schon im Bürgerkrieg die Unzufriedenen mobilisiert.» Jetzt, da die IRPT-Führungsriege im Exil im Ausland lebe, organisiere man sich dort gemeinsam mit radikalen Kräften aus Usbekistan, Kirgistan und der chinesischen ­Uiguren-Provinz Xinjiang. Diese Gruppierungen wollten andere Machtverhältnisse in Zentralasien und einen politisch institutionalisierten Islam. «Doch das», sagt Kalandarov, «ist eine Gefahr für die Sicherheit Tadschikistans und Zentralasiens insgesamt.»

«Präsident Rahmon will schlicht die Alleinherrschaft»

Mahmudjon Faizrahmon ist Sprecher der verbotenen islamischen Oppositionspartei IRPT und lebt inzwischen in Wien. Er betont, seine Partei plane weder einen gewalttätigen Sturz des Regimes noch die Etablierung des politischen Islam in Tadschikistan. «Präsident Emomali Rahmon will schlicht die Alleinherrschaft ohne störende Opposition. Wir aber wollen ein demokratisches Tadschikistan mit freien Wahlen.»

Rahmon, der sich per Gesetz zum «Führer der Nation» mit Amtsgarantie auf Lebenszeit küren liess, geht rigide gegen politische Gegner vor. Zahlreiche IRPT-Mitglieder oder deren Rechtsanwälte wurden seit 2015 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Das zunehmend harte Durchgreifen der Regierung trifft auch die Pressefreiheit: Im vergangenen Dezember wurde der 35-jährige Journalist Khayrullo Mirsaidov festgenommen. Die Staatsanwaltschaft warf ihm «Anstiftung zu interethnischem, nationalem oder religiösem Hass» vor, nachdem er in einem Artikel auf die Korruptionsversuche eines lokalen Politikers seiner Heimatregion Sughd aufmerksam gemacht hatte. Mirsaidov drohen bei einer Verurteilung 21 Jahre Haft.

In Redaktionen ist Selbstzensur an der Tagesordnung

Im Ranking von Reporter ohne Grenzen ist Tadschikistan in den vergangenen drei Jahren um mehr als 30 Plätze abgerutscht, auf Platz 149 von 180 Ländern. Mittlerweile gebe es eine deutliche rote Linie für Journalisten, sagt Zebo Tajibayeva, Chefredaktorin von Asia Plus, der grössten unabhängigen Mediengruppe in Tadschikistan. «Die Geschäfte des Präsidenten und seiner Familie sind tabu.» Selbstzensur sei an der Tagesordnung, mehrfach hätten Mitglieder des Präsidentenclans in der Redaktion angerufen und gedroht, «das ging zu weit, ihr werdet die Folgen zu tragen haben». Tajibayeva schämt sich dafür, dass auch sie nur noch auf eine geordnete Machtübergabe hofft. Rahmon bringe bereits seine Kinder politisch in Stellung, sagt die Journalistin. Rahmons Tochter Ozoda leitet den Präsidentenapparat, sein Sohn Rustam Emomali ist Bürgermeister von Duschanbe. «Das Schlimmste wäre ein Konflikt innerhalb des Präsidentenclans», so Tajibayeva, «das könnte blutig enden.»

Auch Edward Lemon hat eine pessimistische Prognose für Tadschikistan: «Das Land entwickelt sich zu einer autokratischen Monarchie, die zu einem autoritären Erbfolge-Regime ausgebaut wird wie in Aserbaidschan oder Nordkorea.» Dafür ist das Regime bereit, nicht nur Religionsfreiheit und Menschenrechte, sondern auch das internationale Vertrauen in ein säkulares muslimisches Land zu opfern.

Der Artikel erschien am 20.01.2018 in der Luzerner Zeitung