Auf die jüdische Gemeinde im kirgisischen Bischkek wurde am 9. September, dem jüdischen Neujahrstag Rosch Haschana, ein Anschlag verübt. Es ist der zweite in diesem Jahr. Man hofft auf baldige Aufklärung, doch schwache Rechtsschutzorgane, politische Instabilität und die anstehenden Parlamentswahlen machen das unwahrscheinlich.
Für die jüdische Gemeinde in Bischkek begann das neue Jahr mit einem Schock. Unbekannte attackierten am 9. September die einzige Synagoge der kirgisischen Hauptstadt mit einer selbst gebauten Streubombe, gespickt mit Nägeln. Nur durch glückliche Umstände wurde niemand verletzt. Wie der kirgisische Oberrabbiner Arje Rajchman berichtet, sollte der Gottesdienst zu Rosch Haschana um 17.30 Uhr beginnen. »Doch wir haben ihn kurzfristig nach hinten verschoben. Als die Bombe gegen 17.30 Uhr in den Hof flog, waren glücklicherweise noch keine Beter da.« So gingen durch die Wucht der Explosion und herumfliegende Splitter nur Fensterscheiben zu Bruch.
Der Anschlag auf die Synagoge in Bischkek ist bereits der zweite in diesem Jahr. Während der gewalttätigen Ausschreitungen in der kirgisischen Hauptstadt Anfang April, in deren Verlauf Ex-Präsident Kurmanbek Bakijew gestürzt worden war, hatten Unbekannte drei Molotowcocktails in die Synagoge geworfen. Auch damals war niemand verletzt worden.
Wie Rabbi Rajchman mitteilte, seien die Täter des Anschlags im April bis heute nicht gefunden und die Ermittlungen noch nicht beendet. Wer für den neuen Anschlag verantwortlich sei, kann Rajchman nicht sagen. Mutmaßungen anstellen wolle er jedoch nicht, die Polizei untersuche den Fall. »Die Ermittlungsorgane sind genauso interessiert daran, herauszufinden, wer dahintersteckt, wie wir«, sagt Rajchman.
Dass die Täter wirklich gefasst werden, ist unwahrscheinlich. Denn Polizei und Justiz in Kirgistan arbeiten sehr ineffektiv und werden von Korruption behindert, umso mehr, da sich das Land in einer politischen Umbruchphase befindet. Für den 10. Oktober sind Parlamentswahlen angesetzt, mit denen eine neue Regierung legitimiert werden soll. Momentan ist eine Übergangsregierung unter der ehemaligen Oppositionspolitikerin Rosa Otunbajewa im Amt, die allerdings der Krisensituation nicht Herr wird.
Als es im Juni im Süden des Landes zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen die usbekische Minderheit kam – nach Schätzungen der Vereinten Nationen starben dabei mehr als 2.000 Menschen –, war die Lage dort rund eine Woche lang völlig außer Kontrolle. Otunbajewa selbst bat Russland darum, in Kirgistan militärisch zu intervenieren.
Obwohl sich die Lage inzwischen stabilisiert hat, fürchten Beobachter, dass sich die ethnischen Konflikte im Land verschärfen und es erneut zu Gewaltausbrüchen kommt. Zum einen gewinnen nationalistische Kräfte in der Politik an Einfluss. Zum anderen formiert sich im Zuge der kirgisisch-usbekischen Auseinandersetzungen ein radikal-islamistisches Lager. So hat die Islamische Bewegung Usbekistans, bisher ohne nennenswerten Einfluss in Kirgistan, zum Dschihad gegen die kirgisische Regierung aufgerufen. Dass die Extremisten Zulauf haben und sich in Kirgistan bereits eine regelrechte Dschihadbewegung gebildet hat, die in ganz Zentralasien an Einfluss gewinnen kann, ist nach Meinung des Politologen Alexander Knjasew von der Slawischen Universität in Bischkek, »eine adäquate Antwort auf die jüngsten Ereignisse und die unzulängliche Reaktion der kirgisischen Führung«.
Angesichts der angespannten politischen Situation hat der Eurasische Jüdische Kongress (Jewroasiatski Jewrejski Kongress, EAJK) nach dem Anschlag auf die Synagoge in Bischkek an Rosch Haschana die kirgisische Regierung dazu aufgerufen, den Anschlag politisch nicht zu unterschätzen. Sie solle »alle notwendigen Maßnahmen unternehmen, um die Täter zu finden und zu bestrafen sowie Objekte der jüdischen Infrastruktur des Landes zu sichern«, fordert EAJK-Präsident Alexander Maschkewitsch, einer der einflussreichsten Oligarchen in Zentralasien.
Die jüdische Gemeinde in Kirgistan ist durch den erneuten Anschlag schwer verunsichert. Rund 2.000 Juden leben im Land, die meisten in Bischkek. Rabbi Rajchman, der die jüdische Gemeinde wieder zum Leben erweckt hat, versichert, dass es in Kirgistan bis zu diesem Jahr nie Anzeichen von Antisemitismus gegeben habe. »Der erneute Anschlag kommt für uns völlig überraschend.« Die erste Attacke im April könne man noch im Kontext der sozialen Unruhen und einer aufgeheizten Stimmung betrachten, meint Rajchman. Doch jetzt, da die Lage in Bischkek seit Monaten wieder ruhig ist, ist er völlig ratlos, was das für die Gemeinde zu bedeuten habe. »Ich hoffe, dass die Parlamentswahlen und eine neue Regierung das Land stabilisieren.«
Jüdische Allgemeine, 23.09.2010