Badische Zeitung, 08.10.2010
Die Parlamentswahl am Sonntag in Kirgistan soll einen politischen Neuanfang im von Unruhen geschüttelten Land ermöglichen. Im April war der autoritäre Präsident Kurmanbek Bakijew nach Masseprotesten gestürzt worden. Beobachter bezweifeln, dass eine neue Führung Korruption und Vetternwirtschaft beenden wird. Außerdem ist die Lage im Süden weiter explosiv.
Vor dem Parlamentssitz im Zentrum der Hauptstadt Bischkek wird demonstriert – wieder einmal. Die Protestbereitschaft in dem kleinen zentralasiatischen Land ist groß. Zwischen Spruchbändern und ein paar Zelten stehen 150 Kirgisen. Darunter sind auch vermummte Sicherheitskräfte. Es sind Angehörige von Bakijews früherer Spezialeinsatztruppe Alpha; sie wollen die Freilassung von acht Kollegen erzwingen. Die wurden verhaftet, weil sie im April auf Befehl Bakijews Demonstranten erschossen haben sollen.
Eine junge Frau mit Megafon animiert die Menge zu Sprechchören, “Freiheit, Freiheit” fordert sie. Sie ist die Nichte von Almas Jolduschalijew, des ehemaligen Chefs der Alpha-Einheit, der ebenfalls in Haft ist. “Keiner der Verhafteten hatte ein rechtmäßiges Gerichtsverfahren,” erklärt Jolduschalijewa. “Dass sie im Gefängnis sitzen, verstößt gegen das Gesetz.” “Unsere Männer haben doch nur Befehle ausgeführt,” ruft eine Frau. Jolduschalijewa ergänzt: “Wir wollen Rechtsstaatlichkeit – doch hält sich auch die derzeitige Regierung nicht daran.”
Ob die Verhafteten tatsächlich Menschen getötet haben, ist bis heute nicht geklärt. Tatsache ist: Bei den Demonstrationen im April starben 86 Menschen. Tausende Kirgisen hatten gegen die korrupte Vetternwirtschaft Bakijews protestiert. Der ließ auf die Demonstranten schießen und flüchtete schließlich vor den Massen. Noch am selben Tag wurde Bakijew abgesetzt und eine Übergangsregierung um Rosa Otunbajewa gebildet.
Seitdem kam es immer wieder zu blutigen Protesten. Im Juni gingen in Südkirgistan Kirgisen auf die usbekische Minderheit los. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen starben etwa 2000 Menschen. Die Übergangsregierung war machtlos, eine Woche lang war die Lage in Südkirgistan außer Kontrolle.
Seit dem Sommer hat sich die Lage etwas stabilisiert. Ende Juni stimmte die Mehrheit der Kirgisen für eine neue Verfassung. Danach hat der Präsident jetzt weniger Einfluss, Parlament und Regierung wurden gestärkt. Mit der Parlamentswahl soll nun auch eine neue Regierung legitimiert werden. Rosa Otunbajewa bleibt noch bis Ende 2011 im Amt.
Skepsis bleibt angesichts der 29 zur Wahl angetretenen Parteien. “Kaum eine wirbt mit realistischen Parteiprogrammen,” so der Politologe Alexander Knjasew vom Institut für politische Lösungen im kasachischen Almaty. “Stattdessen setzt man auf prominente Namen und Führungspersönlichkeiten.” Zahlreiche Anhänger Bakijews und früherer Regierungen sind mit im Rennen. Und einige Mitglieder der Übergangsregierung – unter Bakijew in der Opposition – waren rechtzeitig zurückgetreten, um an der Parlamentswahl teilzunehmen und sich einen Platz im neuen Parlament zu sichern. Knjasew ist dennoch optimistisch: “Das jetzige parlamentarische System birgt Potenzial für einen Neuanfang – wenn die neuen rechtsstaatlichen Strukturen genutzt werden.”
Doch dass Korruption, Clanzugehörigkeiten und Vetternwirtschaft künftig eine geringere Rolle spielen sollen als rechtsstaatliche Mechanismen, darf bezweifelt werden. So hat auch der Protest am Parlamentsgebäude einen faden Beigeschmack. Noch am Abend kommt Almas Jolduschalijew frei. Unter Jubelrufen bedankt er sich bei seinen Anhängern.
Doch das Auftreten Jolduschalijews wirkt inszeniert. Ein Zugeständnis der Übergangsregierung? Oder doch der lange Arm eines ehemals Regierungstreuen womöglich aus dem Justizapparat, der nach wie vor von Bakijews Leuten beherrscht wird? Die Verstrickungen und Einflusssphären kirgisischer Amtsträger reichen oft weit in die Vergangenheit zurück. Eine juristische Aufarbeitung der Ereignisse vom April und Juni ist deshalb kaum zu erwarten – auch nicht von der neuen Regierung.