Der Berliner Architekt Philipp Meuser hat den im Verlag DOM Publishers erschienenen Architekturführer Kasachstan herausgegeben. Darin schlägt er einen Bogen von sowjetischer hin zu moderner kasachischer Architektur. Das schwergewichtige Kompendium ist das erste seiner Art überhaupt, nicht einmal auf Russisch gibt es einen vergleichbaren Überblick für Kasachstan. Herausgekommen ist ein lesenswertes, oft augenzwinkendes Handbuch für Stadtflaneure mit einem Fokus auf Astana und vielen Beispielen zur weniger bekannten Baugeschichte in Kasachstan.
Umzug der deutschen Botschaft nach Astana
Als die deutsche Botschaft in Kasachstan 2006 von Almaty nach Astana umzog, war es der Berliner Architekt Philipp Meuser, der den Umzug planerisch begleitete. Aus dem repräsentativen, zentral gelegenen Botschaftsgebäude an der Furmanovstraße in Almaty ging es damals in das Presidential Plaza in Astana, ein nüchternes Bürohaus auf der linken Seite des Ischim, das bis heute ein Provisorium ist. Aus diesem Auftrag in Kasachstan ergaben sich zahlreiche weitere. Und in der Folge bekam Meuser viele Gebäude und Projekte in Kasachstan zu sehen und trug so aus Interesse und en passant zahlloses Material zur Baugeschichte in Kasachstan zusammen.
Jetzt hat er daraus einen Architekturführer Kasachstan gemacht, in dem er einen Bogen spannt von sowjetischer hin zu moderner kasachischer Architektur.
Weißer Fleck in Sachen Architektur
Mit dem Buch wolle er Kasachstan in den internationalen Kontext des Planens und Bauens einbinden und damit über die Fachöffentlichkeit hinaus einen weißen Fleck auf der Landkarte füllen, so Meuser in seinem Vorwort. Die derzeit in Kasachstan stattfindende architektonische Renaissance habe sich bislang weitgehend ohne einen internationalen Diskurs über die Typologie einer eurasischen Stadt vollzogen, bemängelt er, und liefert die Grundlage für fachliche Auseinandersetzungen: Mehr als 500 gehaltvolle Seiten, auf denen er das Spektrum der zeitgenössischen Baukunst in Kasachstan ausbreitet.
Wer Seidenstraßenfeeling und einen Überblick über Moscheen, Medressen und timuridische Mausoleen erwartet, wird enttäuscht werden. Kasachstan mit seiner nomadischen Vergangenheit, hat davon einfach viel zu wenig zu bieten. Der Schwerpunkt des Buches liegt deshalb ganz deutlich auf der sowjetischen und postsowjetischen Architektur – einem Steckenpferd des Autors, der sich auf diesem Gebiet mit zahlreichen Publikationen aus ganz Osteuropa bereits einen Namen gemacht hat.
Bunter Mix aus Fachwissen und Reiseführer
Wie die ganze Reihe der Architekturführer aus dem Berliner Verlag DOM publishers setzt auch die Ausgabe zu Kasachstan auf einen informativen Mix aus bebilderten, kurzen Faktenblöcken zu ausgewählten Bauprojekten und einer Reihe von Aufsätzen, Reportagen oder Essays, darunter Interviews mit Kisho Kurokawa, der den Masterplan für Astana entworfen hat, oder Leonid Lavrov, einem der Architekten der sowjetischen Musterstadt Shevchenko, dem heutigen Aktau.
80 Gebäude in Astana und 20 in Almaty sind katalogisiert. Das ist ein klares Ungleichgewicht zu Gunsten der kasachischen Hauptstadt. Almaty, die größte Stadt des Landes, bis heute intellektuelles und gewachsenes kulturelles Zentrum Kasachstans, kommt dabei deutlich zu kurz. Doch wurde eben Astana seit der Hauptstadtwerdung 1997 so deutlich verjüngt und in großen Teilen komplett neu erschaffen, dass diese Wahl aus Sicht des Architekten nachvollziehbar erscheint.
Die kurzen Steckbriefe von Khan Shatyr, dem Präsidentenpalast Ak Orda, von Transportministerium, Konzerthaus oder Nasarbajew-Center geben einen Abriss über Sinn und Zweck des Baus, über Planungsgeschichte, Bauausführung und die damit verbundenen Ambitionen. Diese Profile zu lesen, macht den Charme des Buches aus. Sie sind nämlich mitnichten bloße Auflistungen von Fakten. Meuser wertet, und das ganz bewusst – häufig ironisch, entlarvend, mit geradezu diebischer Freude Volkes Stimme zitierend, in der die Prachtbauten „Fressnapf“, „Feuerzeug“ oder „Kohlkopf“ heißen.
Ironische Distanz und professionelle Anerkennung
Die Verkleidung aus Spiegelglas und Aluminium-Verbundpaneelen am Akimat von Astana ist für ihn ein Potjomkinscher, gescheiterter Versuch, dem darunter versteckten Blockbau der Sowjetzeit „zu mehr Leichtigkeit und Modernität zu verhelfen“.
Der Wohnkomplex Nursaja mit seiner Fassade aus Keramikplatten in Granit-Optik und getöntem Glas – „Astanas beliebteste Materialien“ – falle selbst in einer Stadt wie Astana noch unangenehm auf, „wo Eklektizismus fast schon definitionsgemäß der dominierende architektonische Stil ist“.
Meuser spart nicht mit Kritik am – häufig misslungenen – Versuch der kasachischen Städtebauer, mit Astana in der ersten Liga der Weltmetropolen mitzuspielen, an der „für Astana typischen Diskrepanz“ zwischen der äußeren, oft bombastischen Form und dem meist biederen Inneren.
Er stellt aber auch die gelungenen Beispiele jüngerer kasachischer Architektur in Astana heraus – den Schülerpalast mit seiner gekonnten Anleihe an die Gitterstruktur der kasachischen Jurte, die Haileybury School, die sich „bescheiden, aber elegant in die flache Steppenlandschaft“ einfüge, das bemerkenswerte und technisch innovative Dach der Astana Arena.
Stalinpreis und Geldmangel – Geschichten aus der kasachischen Architekturhistorie
Neben dieser Auflistung von Architekturbeispielen aus Astana und Almaty fällt die erfreulich breite Auswahl an ergänzenden Artikeln über weitere Regionen Kasachstans auf. Für Städte wie Pawlodar, Aktau oder Öskemen machte der Katalogstil wohl keinen Sinn. Doch geben die Essays dennoch unerwartete Einblicke in die Architekturhistorie Kasachstans.
Wer hätte beispielsweise in Atyrau, der staubigen Ölmetropole am Kaspischen Meer, einen als Gartenstadt angelegten Stadtteil erwartet? Tatsächlich wurde hier Anfang der 1940er Jahre, als die Stadt noch Guriev hieß, eine 43 Hektar große Ölarbeitersiedlung inklusive Kulturhaus, Gartenteichen und hierarchisch abgestuften Häusertypen gebaut – eine Gated Community für privilegierte Raffinerie-Angehörige, deren Entwurf 1945 sogar mit dem Stalinpreis für Architektur ausgezeichnet wurde.
Oder Ridder, die Bergbausiedlung im Altai mit ihren schwarzverwitterten zweistöckigen Holzhäusern – dank fehlender Finanzen und extremer Randlage werde hier wohl noch auf absehbare Zeit historische russische Bausubstanz konserviert, egal, ob beabsichtigt oder eben aus Mangel an Alternativen.
Reiches Kompendium – für Ingenieure und Touristen
Der Architekturführer Kasachstan legt hier die Lupe an und schaut auf ungewöhnliche Orte, die leicht zu übersehen sind oder verkannt werden, weil sie sich nicht auf den ersten Blick als die Kleinodien zu erkennen geben, die sie tatsächlich sind.
Insofern ist das Buch auch weniger ein Architekturführer im streng akademischen Sinn als vielmehr ein Reiseführer für geschichtsbewusste Stadtflaneure. Befreit vom Ballast obligatorischer Kommentare zu Sitten und Gebräuchen kommt es sachlich daher, offenbart den Blick des Ingenieurs, und bringt viel Hintergrundwissen zu Stadtentwicklung und Planungsansätzen im sowjetischen und im heutigen modernen Kasachstan mit.
Man fragt sich, ,Wieso habe ich das bisher übersehen?‘ und plant schon die nächste Reise, um sich das eine oder andere vor Ort selbst anzuschauen. Den Architekturführer Kasachstan – ein gelungenes und großartiges Kompendium über die zeitgenössische Architektur in Kasachstan – sollte man dann unbedingt dabei haben.
Lesen Sie hier ein Interview mit Philipp Meuser über Ansprüche und Ambitionen in der modernen kasachischen Architektur: PDF 80 kB