Noch untersteht Kasachstan dem Einfluss seines ehemaligen Präsidenten. Die gesellschaftlichen Spannungen nehmen zu. Es kommt nun auf politische und wirtschaftliche Reformen an.
Als Kasachstan im Januar 2021 ein neues Parlament wählte, war das Interesse der Bevölkerung verhalten, auch wenn die Wahlbeteiligung offiziell bei gut 63 Prozent lag. Denn der Wahlsieger stand aus Sicht vieler schon vorher fest. Fünf Parteien zogen für die nächsten fünf Jahre in die Mazhilis ein, das Unterhaus des kasachischen Parlaments. Mit 71 Prozent und 76 von 98 Sitzen gewann die Präsidenten- und Regierungspartei Nur Otan, zu Deutsch „Strahlendes Vaterland“. Zwar hat Kasachstan ein pluralistisches Parteiensystem, doch Nur Otan ist ununterbrochen seit 1999 die stärkste Partei des Landes. Bis 2012 war sie sogar einzige Partei im Parlament. „Den Parlamentswahlen am 10. Januar 2021 in Kasachstan fehlte es an echtem Wettbewerb“, konstatierte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in ihrem Wahlbericht. Und: „Das Angebot an politischen Optionen ist begrenzt, da trotz mehrerer Versuche seit 2013 keine neuen Parteien registriert wurden.“
Die einzige zugelassene Partei, die nicht als regierungstreu gilt, boykottierte die Wahlen im Januar. Andere oppositionelle Bewegungen werden seit vielen Jahren entweder verboten oder systematisch an ihren Aktivitäten gehindert. Medien und Zivilgesellschaft unterliegen einer engmaschigen staatlichen Kontrolle. In der Rangliste der Pressefreiheit 2021 von „Reporter ohne Grenzen“ steht Kasachstan auf Platz 155, im hinteren Drittel der 180 bewerteten Länder. Auf Proteste vor den Parlamentswahlen hatte die Regierung mit Verhaftungen reagiert.
Ohnehin hat das Parlament in Kasachstan einen eher formalen Charakter. Das flächenmäßig größte Land in Zentralasien ist seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991 eine Präsidialrepublik. Das Parlament kann Gesetze initiieren, in den meisten Fällen erfolgt dies aber durch die Regierung. Obwohl im Jahr 2017 eine Verfassungsreform dem Parlament mehr Weisungsbefugnis zusprach, ist der Präsident nach wie vor wichtigstes Organ der Legislative. 2019 übernahm Kassim-Schomart Tokajew das Präsidialamt. Doch er hat bei vielen Kasachinnen und Kasachen keinen leichten Stand, da er als Günstling von Ex-Präsident Nasarbajew gilt.
Jahrzehnte der Macht
Wie kein anderer hat der ehemalige Präsident Nursultan Nasarbajew die Entwicklung Kasachstans der vergangenen 30 Jahre geprägt. Nach der Unabhängigkeit übernahm er im Jahr 1991 das Präsidentenamt, zuvor war er bereits seit 1989 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Über Jahrzehnte hinweg richtete Nasarbajew das Präsidentenamt auf eine wachsende Machtfülle und seine Person aus, etablierte eine starke, ihm wohlgesonnene politische und wirtschaftliche Elite – und sich selbst als Stabilitätsgaranten. Mehrere politische Gegner kamen durch mysteriöse Todesfälle ums Leben. Seine Familienangehörigen besetzen bis heute wichtige politische Ämter und besitzen einige der größten Unternehmen des Landes. Am prominentesten ist seine älteste Tochter Dariga Nasarbajewa, die mehrere Unternehmen betreibt, Sprecherin des Oberhauses des Parlaments und Vize-Premierministerin war, seit den Parlamentswahlen wieder Mitglied der Mazhilis ist und lange als potenzielle Nachfolgerin ihres Vaters galt.
Mehrfach ließ Nasarbajew die Verfassung ändern, um seine Amtszeit zu verlängern. Doch am 19. März 2019, während der TV-Live-Übertagung einer Rede an die Nation, unterzeichnete Nasarbajew überraschend „sein letztes Dekret“, wie er es damals nannte – seinen Rücktritt. Damit ging nicht nur in Kasachstan eine Ära zu Ende, sondern im gesamten postsowjetischen Raum: Der letzte Präsident einer Ex-Sowjetrepublik, der noch vor dem Ende der Sowjetunion ins Amt gekommen war, legte dieses freiwillig nieder.
Einen Tag nach Nasarbajews Rücktritt übernahm Tokajew als damaliger Sprecher des Parlaments das Präsidentenamt, zunächst interimistisch. Seine erste Amtshandlung: Die Umbenennung der Hauptstadt Astana in Nur-Sultan, zu Ehren Nasarbajews. Am 9. Juni 2019 wurde Tokajew in vorgezogenen, ursprünglich für 2020 vorgesehenen Präsidentschaftswahlen im Amt bestätigt.
Proteste der Bevölkerung
Die Spannungen in der kasachischen Gesellschaft, die bereits vor dem Rücktritt Nasarbajews sichtbar geworden waren, die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung wegen einer sich schon vor der Corona-Pandemie abzeichnenden schweren Wirtschaftskrise und sich bereichernder Eliten haben sich seit Tokajews Amtsantritt verschärft. Nach den Präsidentschaftswahlen kam es in Kasachstan zu massiven Protesten.
Während der Coronakrise entstand der Eindruck, dass Kasachstan die Menschenrechte weiter einschränkt.. Die Protestbewegung des Jahres 2019 scheint auch aus diesem Grund vorerst erstickt zu sein. Doch die Unzufriedenheit besteht weiter. Die Hoffnung, dass Präsident Tokajew dringend notwendige politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Reformen zügig umsetzen könnte, ist für viele erloschen.
Nach Einschätzung des kasachischen Politologen und Menschenrechtlers Evgeniy Zhovtis befindet sich Kasachstan noch immer in einer Zeit des Übergangs. „Aber wichtiger als die Frage, wer dem Land derzeit eine neue Richtung geben könnte“, so Zhovtis, „ist, wie politische Ämter nach Nasarbajews Rücktritt verteilt wurden, um die Garantien, die Nasarbajew den Eliten für deren Sicherheit persönlich gegeben hat, zu institutionalisieren.“
Nasarbajew selbst hatte sich in den Monaten vor seinem Rücktritt weitgehende Machtbefugnisse gesichert. Er ist weiterhin Chef des Sicherheitsrates, führt die Regierungspartei Nur Otan, ist Mitglied des Verfassungsrates und genießt zudem auf Lebenszeit Immunität vor Strafverfolgung. Offiziell lässt er sich „Erster Präsident der Republik Kasachstan“ oder Elbasy, „Führer der Nation“ nennen. Kasachstan werde derzeit von Technokraten regiert, die in erster Linie Nasarbajews Erbe verwalteten, meint Zhovtis. In der Wahrnehmung vieler werden daher drängende Fragen wie eine gerechtere Verteilung des Wohlstands in dem rohstoffreichen Land nicht angegangen.
Langjähriger Partner Deutschlands
Trotz aller Kritik an Nasarbajew war er es, der das Land nach der Unabhängigkeit zu einem wichtigen Player auf dem internationalen Parkett machte. Auch Deutschland hat über die Jahre stabile Beziehungen mit Kasachstan aufgebaut. Dank Nasarbajew fand die Republik nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aus den von einer wirtschaftlichen Talfahrt geprägten 1990er-Jahren schnell den Weg in Richtung Marktwirtschaft. Anders als die ebenfalls sehr rohstoffreichen Nachbarn Usbekistan und Turkmenistan hatte Nasarbajew Kasachstan schon frühzeitig für ausländische Investoren und Wirtschaftspartner geöffnet und in der internationalen Zusammenarbeit eine Chance für die Entwicklung des Landes gesehen.
Geopolitisch bedeutsam ist die von Nasarbajew geprägte Multivektorpolitik. Kasachstan pflegt gute Beziehungen zu Russland, China, zur Europäischen Union und den USA. Nasarbajew gilt als Initiator der Eurasischen Wirtschaftsunion. Und unter seiner Regie trat Kasachstan als Vermittler bei Friedensverhandlungen für die Ukraine, Syrien und Afghanistan in Erscheinung. Tokajew führt diese Politik fort, auch wenn mittlerweile deutliche Risse gegenüber Russland und China zu spüren sind.
Politische Führungsrolle in Zentralasien liegt noch in Kasachstan
Als stärkste Wirtschaftsmacht in Zentralasien nimmt Kasachstan bis heute auch politisch die Führungsrolle in der Region ein. Das allerdings könnte sich ändern, weil der usbekische Präsident Shavkat Mirziyoyev im Nachbarland einen massiven Reformkurs einschlägt. Usbekistan hat sich seit 2016 politisch und wirtschaftlich geöffnet. Eines der größten Anliegen Mirziyoyevs ist seitdem die Erneuerung der regionalen Beziehungen innerhalb Zentralasiens. Diese Initiative kommt auch bei den anderen zentralasiatischen Ländern gut an. Usbekistan hat rund 34 Millionen Einwohner, Kasachstan knapp 19 Millionen. Die usbekische Wirtschaft befindet sich im Aufschwung, internationale Unternehmen zeigen Interesse.
In dieser neuen Konkurrenz mag auch eine Chance für die zukünftige Entwicklung Kasachstans liegen. Sollten die gesellschaftlichen Herausforderungen bestehen bleiben und ökonomische Reformen nicht vorangebracht werden, könnte das Land seinen bisherigen Führungsanspruch in Zentralasien verlieren. Für Präsident Tokajew wird es darauf ankommen, ob er das Erbe seines Vorgängers mit den Wünschen vieler Kasachinnen und Kasachen nach Veränderung in Einklang bringen kann.
Der Artikel ist im Länderprofil Kasachstan von Gate//Germany Internationales Hochschulmarketing erschienen. Hier gibt es die gesamte Publikation zum Download.