Nasarbajew im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl 2015 in Almaty – vier Jahre später der freiwillige Rücktritt

Am 19. März hat der kasachische Präsident Nursultan Naarbajew im Fernsehen seinen Rücktritt unterzeichnet. Damit steht das Land vor einer politischen Zäsur. Im Interview erklärt n-ost Korrespondentin Edda Schlager, warum der Rücktritt in Kasachstan absehbar war und Nasarbajews Entscheidung strategisch klug ist.

ostpol: Edda, Du arbeitest seit 14 Jahren in Zentralasien. Was ist das für ein Gefühl, in einem anderen Land aufzuwachen – einem Land, in dem sich die politischen Bedingungen grundlegend geändert haben? Merkt man das auf der Straße? Wie ist der Rücktritt bei den Menschen zu spüren?

Edda Schlager: Es ist überall Gesprächsthema, viele sind geschockt und überrascht. Die Leute versuchen positiv in die Zukunft zu schauen, haben aber natürlich trotzdem Ängste. Vor allem davor, dass da jetzt doch noch etwas nachkommen könnte, was das Land destabilisiert. Mein Eindruck ist, dass der Rücktritt Nasarbajews für die Menschen hier in seiner Bedeutung dem Fall der Mauer gleichkommt.

Historischer Tag für Kasachstan

Viele haben gestern in den sozialen Medien geschrieben: „Das ist der Tag an den wir uns alle erinnern werden. Wo wir waren, was wir getan haben, in welcher Situation wir vom Rücktritt erfahren haben.“ Jeder fühlt sich betroffen, jeder hat eine Meinung dazu. Im Land herrscht Feiertagsstimmung, weil morgen das Nauryz-Fest anfängt. Das bedeutet hier in Kasachstan: fünf Tage frei. Ähnlich wie bei uns zu Weihnachten oder Silvester. Dass diese Entscheidung unmittelbar vor Nauryz verkündet wurde, erscheint mir beabsichtigt. Die Menschen sind jetzt mir ihren Familien beschäftigt, das öffentliche Leben steht ohnehin still.

Ist Kasachstan heute ein anderes Land?

Ja, gerade für mich als Journalistin. Die Drähte laufen heiß, man ist mit einem Auge auf Twitter, schreibt gleichzeitig Artikel und versucht, so viele Informationen wie möglich aufzunehmen. Es ist schade, dass in Deutschland wenig Bewusstsein für die Größe dieses Ereignisses herrscht, denn das ist es – ein besonderes Ereignis. Der Vergleich mit dem Mauerfall ist nicht weit hergeholt.

Überraschender Rücktritt – und auch nicht

Der Mauerfall ist ja nicht einfach so passiert, sondern war eingebunden in einen längeren Prozess. Aus dem Ausland wirkt der Rücktritt Nasarbajews natürlich überraschend. Wie überraschend kam der Rücktritt für die Kasachen? Nasarbajew hatte zuletzt ja sein Kabinett entlassen und es gab immer wieder kleinere Proteste. Hat sich das angebahnt oder hat Nasarbajew sein Volk kalt erwischt?

Dass es heute passiert, kam überraschend. Aber meine persönliche Einschätzung ist, dass sich etwas angebahnt hat, nur was genau passieren würde, war noch nicht klar. Es sollten ja nächstes Jahr regulär Präsidentschaftswahlen stattfinden – und alle vergangenen Präsidentschaftswahlen haben nicht zum ursprünglich geplanten Zeitpunkt stattgefunden. Es gab Referenden bei denen man sich dafür eingesetzt hat, dass Nasarbajew nochmal antreten kann. Dafür wurde extra die Verfassung geändert.

Viele Entscheidungen wurden so inszeniert, als ob sie aus dem Volk gekommen wären. Dass er weiter kandidieren möge, dass man auf Wunsch des Volkes hin die Verfassung ändern müsse, usw. Das war natürlich politisch gesteuert. Deswegen war man als Beobachter gewarnt, dass auch jetzt, vor den Wahlen 2020 etwas passieren würde. Ich bin davon ausgegangen, dass es zu vorzeitigen Wahlen kommen könnte. Selbst der freiwillige Rücktritt lag als Möglichkeit in der Luft.

Unruhe in der Bevölkerung

Nasarbajew hatte sich bereits im letzten Jahr zum lebenslangen Chef des Sicherheitsrates machen lassen… 

Er hat außerdem vor einem Monat im Verfassungsrat prüfen lassen, welche Privilegien ihm nach seiner Präsidentschaft zustehen würden. Die Situation in Kasachstan war in den letzten Monaten angespannt. Es gab zwar keine großen Demonstrationen, aber es gab immer wieder kleinere Proteste. Anfang des Jahres sind fünf Kinder einer alleinerziehenden Frau in einem Wohncontainer verbrannt, während die Mutter nachts arbeiten musste. Die Familie wohnte in sehr ärmlichen Verhältnissen. Das hat einen unheimlichen Aufschrei in der Bevölkerung hervorgerufen, weil alleinerziehende Mütter mit so vielen Kindern gezwungen sind, arbeiten zu gehen und der Staat keine Sozialhilfe zahlte, damit diese Frau sich um ihre Kinder kümmern konnte.

Vor zwei Wochen haben Ölarbeiter in Schanaozen wieder angefangen zu protestieren, wie schon 2011. Sie demonstrierten für höhere Löhne. Dort wurde eine kasachische Journalistin festgesetzt, weil sie darüber berichten wollte. Kurz nach der Entlassung der Regierung fand ein Parteitag der Präsidentenpartei Nur Otan statt. Da sind Menschen auf die Straße gegangen, haben protestiert und gefordert: „Nasarbajew muss weg!“ und „Nasarbajew geh!“. Das ist erst drei Wochen her. Die Demonstranten wurden zu Dutzenden festgesetzt.

Unzufriedenheit ist deutlich gestiegen

In der letzten Zeit habe ich mit vielen Leuten gesprochen, mit Taxifahrern, einfachen Leuten aus Almaty. Es lag was in der Luft. Die Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Situation und die Perspektivlosigkeit für junge Leute ist unheimlich gewachsen. Die Entscheidung für den Rücktritt hängt ganz klar damit zusammen, Dampf rauszulassen. Dass Nasarbajew selbst zurücktritt, ist eine kluge Entscheidung und darf in Europa nicht unterschätzt werden.

Hat diese Entscheidung wirklich eine so große Tragweite oder verändert sich real gar nicht so viel? Nasarbajew wird ja zahlreiche Ämter behalten, er ist nach wie vor der verfassungsmäßige „Führer der Nation“, bleibt weiterhin Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates und hat ankündigt, weiterhin für Kasachstan da zu sein und mitbestimmen zu wollen. Behält er möglicherweise genug Macht, um auch zukünftig im Hintergrund zu agieren?

Ja, ich habe in den sozialen Medien gelesen, „Nasarbajew ist gegangen, aber er ist nicht weg.“
Er wird nicht unmittelbar von der politischen Bühne verschwinden, er wird weiter im Hintergrund die Fäden ziehen. Es wurde auch etwas despektierlich geschrieben: „Er wird jetzt etwas mehr Urlaub haben – seinem Alter entsprechend.“

Nasarbajew behält die Fäden in der Hand

Er will weiterhin das Heft in der Hand halten, das ist sein Ziel. Die Klugheit besteht hier aber darin, dass er es nicht drauf ankommen lässt, die Unzufriedenheit weiter hochkochen zu lassen, bis noch mehr Leute auf die Straße gehen. Indem er jetzt geht, schützt er sein Vermächtnis. Seine Familie hat sehr viel Unheil angerichtet und sich am Land bereichert, das darf man nicht in Abrede stellen. Die Menschenrechtssituation in Kasachstan ist in den letzten Jahren schlechter geworden. Im jüngsten Bericht von Human Rights Watch wird vor allem die fehlende Pressefreiheit moniert. Journalisten werden in ihrer Tätigkeit behindert. Redaktionen werden geschlossen. Journalisten werden mit hohen Geldstrafen belegt. Ausländische Berichterstatter werden trotz Akkreditierung in ihrer Arbeit behindert.

Das alles ist das Vermächtnis von Nasarbajew. Aber dass er nichtsdestotrotz die Größe hatte, zurückzutreten, ist ein wichtiger Punkt. Dahinter steckt aber sicherlich auch das Kalkül, nicht alles unkontrolliert zu verlieren, sondern das Heft des Handelns in der Hand zu behalten und den Reichtum seiner Familie zu sichern.

Der Rücktritt war strategisch durchdacht

Das ist vor dem Hintergrund der symbolpolitischen Aufladung von Nasarabajew in Kasachstan auch verständlich. Er inszeniert sich als Architekt der neuen Hauptstadt Astana, im Baiterek-Turm im Zentrum der Hauptstadt ist sein Handabdruck in Metall gegossen, im ganzen Land gibt es Nasarbajew-Statuen. Die Lücke, die er im kollektiven Bewusstsein hinterlassen hätte, wenn er aus dem Land gejagt worden wäre, wäre schwer zu schließen gewesen.

Genau, deswegen muss man diese Entscheidung differenziert betrachten. Man wird dem modernen Kasachstan nicht gerecht, wenn man lediglich sagt, der letzte Diktator gibt den Löffel ab. Da steckt mehr dahinter – und die Tragweite dieser Entscheidung sollte nicht mit einer flapsigen Pressemeldung aus einer Berliner Redaktion abgetan werden.

Du bist ja die einzige deutschsprachige Journalistin in Zentralasien, die dauerhaft vor Ort ist. Du sagst, man muss die Situation differenziert betrachten. Nun ist die Berichterstattung über Zentralasien in Deutschland, anders als in Großbritannien, den USA oder Russland, nicht besonders breit aufgestellt. Wie ist dein Eindruck nach diesem politischen Erdbeben? Wie ist das Interesse der Redaktionen in Deutschland? Welche Kompetenz liest du in den Beiträgen?

Für die Größe des Ereignisses ist die Berichterstattung miserabel, sie wird scheinbar in erster Linie aus Berliner Redaktionsstuben geführt, wo Journalisten, die irgendwas mit Osteuropa machen, schnell einen Artikel schreiben, der die üblichen Floskeln beinhaltet und die lapidare Phrasen über zentralasiatische Herrscher bedient.

Berichterstattung dem Rücktritt nicht angemessen

Es sind nicht viele Redaktionen auf mich zugekommen, obwohl meine Tätigkeit hier den meisten bekannt ist. Ich habe oft Desinteresse gespürt oder die Antwort bekommen, dass ein Artikel aus der Perspektive von Russland veröffentlicht würde. Das macht mich etwas fassungslos. Eine solche Ignoranz, so ein wichtiges Ereignis lapidar abzutun, das schockt mich. Diese Einschätzung liegt nicht daran, dass ich nicht gut genug vernetzt wäre. Das tiefergehende Interesse ist einfach nicht da.

Selbst renommierte Medien bedienen sich lieber irgendwelcher zusammengeflickter Meldungen von Agenturen, die keine Korrespondenten vor Ort haben. Die Umbenennung der Hauptstadt Astana in Nursultan ist dann aber wieder einen höhnischen Artikel wert – ah, siehe da, der skurrile Osten, nichts als Personenkult, können wir mal wieder flugs die Klischees bedienen, das klickt der Leser sicher.

Da frage ich mich, welchen Anspruch an Berichterstattung diese Journalisten haben. Wenn ich anbiete, die Entwicklungen im Land weiter zu beobachten, wird das überhaupt nicht erwogen. Man hatte die Meldung – mehr interessiert nicht.

Zentralasien ist im Umbruch

Vor zweieinhalb Jahren ist der usbekische Diktator Islom Karimov gestorben, jetzt tritt Nasarbajew ab. In den Ländern, die gerade wegen ihrer autoritären Herrscher bisher immer als Stabilitätsanker galten, zumindest aus der Perspektive europäischer und deutscher Realpolitik, geschehen große Veränderungen. Wie wirkt sich das auf die Region aus? Kann da eine Unwucht entstehen?

Das ist eine Frage, die zum jetzigen Zeitpunkt schwer zu beantworten ist. Wie der Rücktritt Nasarbajews in ein paar Jahren gesehen wird und ob er tatsächlich so positiv konnotiert sein wird wie der Mauerfall, das kann man jetzt noch nicht sagen. Möglicherweise destabilisiert sich die Region. Ich glaube das nicht unbedingt, habe eher das Gefühl, dass ein gewisser Druck erstmal gewichen ist. Die Frage nach der Unwucht ist komplett offen. Auch die, wer Nasarbajews Nachfolger wird. Es könnte Parlamentssprecher Tokajew werden, der jetzt auch Interimspräsident ist. Auch die Nachricht, dass Nasarbajews Neffe sein Nachfolger werden könnte, habe ich von einigen Seiten gehört. Ob das realistisch ist, ist schwer zu sagen. Eine Unwucht wäre auf jeden Fall nicht in Nasarbajews Sinne, denn das wollte er ja gerade verhindern. Aber wir sehen es gerade in Kirgistan, wo das russische Modell des Statthalters angewendet werden sollte, bei dem der alte Präsident den neuen steuert – der sich aber unerwarteterweise emanzipiert.

Zentralasien ist gerade in einer Umbruchphase: Usbekistan geht mit seinen Reformen voran, in Tadschikistan stehen nächstes Jahr Wahlen an. Dort gilt als wahrscheinlich, dass der jetzige Präsident einen Machttransfer an seinen Sohn anstrebt. Wir sollten diese Region deswegen nicht aus den Augen verlieren, gerade in der jetzigen Zeit. Und wir sollten die Arroganz ablegen, zu denken, dass wir dies aus einem Redaktionsbüro in Berlin oder Moskau machen könnten.

Ostpol/n-ost, 20.03.2019