Ularbek Dschakschylykow weiß schon, wen er als Präsidenten wählen wird: „Sadyr Japarov, weil er einer von hier ist.“ Hier, das ist die ländliche, bitterarme Region rund um den See Yssykköl, rund 200 Kilometer östlich der Hauptstadt Bischkek. Dschak­schylykow ist Bauer; im Frühsommer zieht die Familie des 26-Jährigen mit Schafen, Pferden, Yaks und Jurten auf die Sommerweiden im Hochgebirge, verbringt dort Monate ohne Strom, Wasser­anschluss und Mobilfunkempfang. Bevor Dschakschylykow heiratete, hat er in der Stadt gelebt, als Barkeeper in der Türkei gearbeitet. Im Vergleich zu anderen im Dorf hat er etwas von der Welt gesehen und eine differenzierte Sicht auf die Politik in Kirgistan entwickelt. Und die ist kompliziert.

Kirgistan gilt im sonst autoritär regierten Zentralasien als „Insel der Demokratie“. Nach der Tulpenrevolution im Jahr 2005, als der Ex-Sowjetfunktionär Askar Akajew aus dem Land und dem Präsidentenamt gejagt worden war, und einer zweiten blutigen Revolution im Jahr 2010, die das korrupte Regime von Akajew-Nachfolger Kurmanbek Bakijew stürzte, wagte Kirgistan als erstes Land in Zentralasien einen revolutionären Schritt: Per Verfassungsänderung erklärte es sich im Jahr 2010 zu einer parlamentarischen Demokratie, schränkte die Entscheidungsgewalt des Präsidenten deutlich ein, erweiterte die des Parlaments.

Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit

Doch in der Verfassung verankerter Parlamentarismus führt nicht automatisch zu funktionierender Demokratie. Das hat der jüngste Regierungsumsturz gerade wieder gezeigt. Bei den Parlamentswahlen am 4. Oktober 2020 hatten mehrere Parteien so offen Stimmen gekauft, dass am Tag danach Tausende gegen den Wahlbetrug protestierten. Innerhalb weniger Tage stürzte die Regierung von Präsident Sooronbai Dscheenbekow. Um das Land zu stabilisieren, setzte eine Interimsregierung für den 10. Januar 2021 Präsidentschaftswahlen an.

Aussichtsreichster Kandidat ist eben jener eingangs erwähnte Sadyr Japarovs aus dem Yssykköl-Gebiet, 52 Jahre alt, Nationalist, Anhänger des 2010 gestürzten Ex-Präsidenten Bakijew. Japarov hatte sich in den 2010er-Jahren für die Verstaatlichung von Kumtor eingesetzt, der größten Goldmine des Landes. Die ist eines der größten Goldvorkommen der Welt und gehört dem kanadischen Bergbauunternehmen Centerra Gold. Als wichtigstes Exportunternehmen Kirgistans ist Kumtor seit Jahren in Korruptionsvorwürfe verwickelt. Japarov will die Mine „dem Volk zurückgeben“. Und dafür wird er bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen auch die Stimme von Bauer Dschakschylykow bekommen.

Japarov hatte noch zu den Parlamentswahlen im Oktober eine elfjährige Haftstrafe für die Entführung eines Lokalpolitikers abgesessen. Wenige Tage später war er Premierminister und Interimspräsident. „Er scheint“, so Schirin Aitmatowa, ehemalige politische Weggefährtin Japarovs, „die Kräfte, die ihn an die Spitze Kirgistans katapultiert haben, nicht einschätzen, geschweige denn beherrschen zu können – ist aber offensichtlich der Meinung, der richtige Mann für das Präsidentenamt zu sein.“ Aitmatowa schätzt ihn als ambitioniert ein, „und er spricht die Sprache des Volkes“.

„Wenn das Volk weiter leidet, gibt es wieder Revolution“

Wer Japaov unterstützt, ist noch unklar. Angebliche Verbindungen zu international agierenden Geldwäsche-­Netzwerken konnte bisher niemand beweisen. Fest steht jedoch: Japarov repräsentiert das autoritäre Kirgistan aus Bakijew-Zeiten. Mit den Präsidentschaftswahlen wollen er und seine Unterstützer ein Referendum über eine Verfassungsreform durchdrücken. Statt einer zwischen Präsident und Premierminister geteilten Exekutive soll die dann wieder allein dem Präsidenten obliegen. Ein kleineres Parlament und eine neue Parlamentskammer, der sogenannte Kurultai, könnten dann lediglich zum Abwinken der Entscheidungen eines wiedererstarkten Präsidentenamts dienen, fürchten Kritiker.

Bektour Iskender, Gründer eines Medien-Start-ups und Befürworter der Demokratie, sieht breite Unterstützung für Japarov, zweifelt dessen Integrität aber an: „Er hat in der kurzen Zeit schon so viel Widersprüchliches getan, hat Druck auf Medien ausgeübt, will eine Verfassungsreform, die keiner verlangt hat.“ Und in Sachen Kumtor „wird er alle, die auf ihn hoffen, hängen lassen“.
Um bei den Präsidentschaftswahlen antreten zu können, ist Japarov Mitte November als Interimspräsident und Premierminister zurückgetreten – ein verfassungsrechtlich zweifelhaftes Manöver, doch bisher von niemandem angefochten.

Bauer Dschakschylykow verzeiht Japarov diese Tricks, um an die Macht zu kommen. „Kirgistan braucht einen starken Mann; im Dorf geht es den Familien gut, die ein strenges Oberhaupt haben.“ Und wenn Japarov seine Versprechen nicht hält? „Wir geben ihm für sechs Jahre eine Chance. Wenn das Volk weiter leidet, gibt es wieder Revolution.“

Der Artikel ist im Cicero 01/2021 erschienen

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