Kasachstan: Die Steppe lebt
Nach der Perestroika wurde die Tier- und Pflanzenwelt in der Steppe Kasachstans massiv zerstört. Jetzt besteht die Hoffnung, die Steppe wiederzubeleben. Gemeinsam mit ihren kasachischen Kollegen erforschen Wissenschaftler aus Deutschland Steppen-Spezies wie Saiga-Antilope und Steppenkiebitz – und verstehen erst jetzt, wie komplex das Ökosystem Steppe wirklich ist.
Mitten in der unendlichen Steppe Kasachstans. Bis zum nächsten Dorf ist es über hundert Kilometer weit. Ganz allein steht ein Deutscher in der baumlosen, grasbewachsenen Weite – der Geoökologe Steffen Zuther. Ein Grollen und Röhren rollt aus der Ferne heran, vom Wind in Fetzen herbeigetrieben – für Steffen Zuther ist es das größte Glück.
Etwa einen Kilometer vor ihm dehnt sich eine langgestreckte Senke, und dort laufen sie, die Tiere, die der Deutsche seit drei Jahren erforscht – Saiga-Antilopen. Um die 500 Tiere schlendern da gemächlich durch die Steppe, grasen, und heben immer wieder lauschend den Kopf. Zuther ist begeistert über die Größe der Herde.
„Hier in Kasachstan, in dieser Population ist die Dichte der Saigas sehr niedrig, und jetzt hier so einen Anblick zu haben, so was gab es in den letzten Jahren gar nicht.”
Saiga-Antilopen sind hellbraun und so groß wie Rehe – nur viel weniger elegant, mit einem plumpen, scheinbar zur groß geratenen Kopf und einer Rüsselnase. Die Männchen tragen wie eine Lyra geschwungene Hörner auf dem Kopf.
Die Hörner sind es auch, die die Antilopen fast zum Aussterben gebracht haben – sie gelten als Heilmittel in der chinesischen Medizin. Noch vor 20 Jahren gab es mehr als eine Million Saigas in den Steppen Kasachstans. Doch nach dem Kollaps der Sowjetunion erlebte das Land eine schwere Wirtschaftskrise. Weil die Bewohner der Steppendörfer ihre Arbeit verloren, wurden die Saigas gnadenlos gewildert – und die Hörner nach China verkauft. Innerhalb von wenigen Jahren sank die Zahl der Antilopen von über einer Million auf nur 20.000.
Der verheerende Bestandsverlust rief deutsche Wissenschaftler auf den Plan. Seitdem die Tiere 2003 unter Schutz gestellt wurden, engagiert sich die nun Zoologische Gesellschaft Frankfurt in der Steppe Kasachstans, gemeinsam mit der kasachischen Gesellschaft zum Erhalt der Artenvielfalt. Den Biologen wurde schnell klar – effektiv schützen kann man nur, was man auch kennt. Doch über das Ökosystem Steppe weiß man bisher kaum etwas.
„Es gab zwar zu Sowjetzeiten etwas Forschung, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist allerdings die Forschung komplett brachliegend und in den letzten Jahren ist quasi nicht mehr viel passiert. Außerdem ist das Gebiet riesig groß, und es gibt da ganz viele Bereiche über die nichts bekannt ist und auch über die ökologischen Zusammenhänge in der Steppe und Halbwüste ist wenig bekannt.”
Das wollen die Wissenschaftler um Steffen Zuther ändern. Vor einem Jahr hatten sie deshalb 20 wilde Saiga-Antilopen mit Halsbändern ausgestattet. Daran sind GPS- und Radiosender befestigt, die regelmäßig Positionsdaten aufnehmen und per Satellit ins Internet schicken. So verfolgen die Forscher die Wanderwege der Saigas. Denn die Tiere sind ständig unterwegs, legen auf Futtersuche mehr als 1.000 Kilometer pro Jahr zurück. Trotz der GPS-Sender sind die Saigas in der freien Natur schwer zu finden, sie sind ständig in Bewegung, wandern an einem Tag mehrere Dutzend Kilometer weit. Gerade hat Steffen Zuther eines der Halsbänder angepeilt, Saiga Nummer Zwölf.
Heute morgen um 8 Uhr – so meldete der GPS-Satellit – war sie genau hier, in dieser Senke. Immer wieder hält Zuther eine Antenne und einen Radioempfänger in Richtung der Tiere – lauscht, ob er eine Art Morse-Signal empfängt.
„Sie ist auf jeden Fall lebendig, weil sie sich bewegt. Und jetzt geht es darum, wie lebt sie mit dem Halsband, läuft sie nur alleine herum, oder ist sie getrennt, ist sie in einer größeren Gruppe, hat sie Junge, hat sie keine Junge. Das wäre jetzt interessant zu wissen, um zu sagen, das Halsband stört sie nicht, oder es beeinflusst sie irgendwie.”
Steffen Zuther ist zufrieden, denn Nummer 12 läuft ganz offensichtlich mitten in der Herde. Und auch die anderen Saigas, die er bereits gefunden hat, verhalten sich unauffällig. Für den Wissenschaftler ist klar – die Halsbänder haben sich bewährt. Nun geht es darum, herauszubekommen, wie die Saigas auf die Umweltveränderungen in der Steppe reagieren.
Das Gebiet, in dem Steffen Zuther „seine” Saigas per Funksender verfolgt, ist die berüchtigte Hungersteppe Betpak Dala, eine der einsamsten und ärmsten Regionen Kasachstans. Die Wissenschaftler aber wollen aus der Hungersteppe wieder eine Goldene Steppe machen – auf kasachisch „Altyn Dala”. So heißt auch das Projekt, das sich die Wiederbelebung der Steppe zum Ziel gesetzt hat. Gerade hier bestehen gute Chancen dafür. Denn durch die Perestroika ist die hiesige, einst intensive Landwirtschaft komplett kollabiert. Viele Dorf-Kolchosen wurden abgewickelt. Gut für die ehemaligen Ackerflächen – denn die konnten sich dadurch erholen.
Amangeldy, rund 100 Kilometer von den Saigas entfernt, ist ein Steppendorf mit einem typischen Schicksal. Die noch rund 8.000 Einwohner kämpfen mit der Arbeitslosigkeit, wer kann, zieht fort. Nicht nur Marat, ein Elektriker, trauert der Sowjetunion nach:
„Wie es jetzt bei uns ist? Drei Straßen haben Wasser, die anderen nicht, Strom gibt es auch nur unregelmäßig. Früher gab es zwei, drei Kolchosen hier, aber die sind geschlossen. Ich will trotzdem nicht weg, wo soll ich denn hin, das ist meine Heimat.”
Die meisten Bewohner von Amangeldy leben von der Landwirtschaft, halten ein paar Schafe oder Kühe. Jeden Morgen werden die Tiere auf die Weiden rund um das Dorf getrieben, wo die Tiere die Vegetation ab fressen. Von natürlicher Steppe kann hier keine Rede mehr sein.
Doch gerade deshalb arbeiten rund um das Dorf Steffen Zuthers Projektkollegen. Die Ornithologen – vier Kasachen und ein Deutscher – untersuchen, wie lange die Steppe braucht, um sich ihr Territorium wieder zurückzuerobern. An verschiedenen Messpunkten suchen sie mit dem Feldstecher vor den Augen den Himmel ab und rufen sich die entdeckten Vogelarten zu: Feldlerche – Brachpieper – Mäusebussard.
Je weiter vom Dorf entfernt, desto mehr Vogelarten entdecken sie. Denn in größerer Distanz zum Dorf weiden weniger Haustiere, die natürliche Steppenvegetation bleibt erhalten. Doch nicht alle Vogelarten bevorzugen hoch geschossenes Federgras und einen dichten Teppich aus Wermut, so der deutsche Ornithologe Johannes Kamp.
„Die ersten Ergebnisse sind sehr interessant, man sieht dass viele Steppenarten eine eigene ökologische Nische einnehmen, die sehr stark verbunden ist, mit der Intensität der Beweidung. Es gibt zum Beispiel die Mohrenlerche, die erst ab einer bestimmten Entfernung von den Beweidungszentren vorkommt, das ist eine Art, die bevorzugt höhere Vegetation. Und es gibt andere Arten, die fühlen sich grad dort wohl, wo das Vieh ist, zum Beispiel der Steppenkiebitz, eine global bedrohte Art.”
Diese Erkenntnis überrascht. Denn offensichtlich kann Wildwuchs in der Steppe auch schaden – wenn nicht alle Arten ihren Platz im Ökosystem einnehmen. So hängt der Steppenkiebitz vermutlich von Tieren wie den Saiga-Antilopen ab, die ihm seinen Lebensraum regelmäßig abweiden. Der rapide Bestandsrückgang der Saigas hat deshalb auch den Steppenkiebitz getroffen – eine fatale Kettenreaktion.
Das tatsächliche Ausmaß der Schäden in der Steppe können die Wissenschaftler heute nur erahnen. In Betpak Dala hoffen sie, das Schlimmste abzuwenden. Steffen Zuther, der Saiga-Experte, ist optimistisch, denn die Bestände der Saiga-Antilopen erholen sich derzeit zu wieder.
„Es geht aufwärts, der Trend ist seit 2003 positiv, aber es dauert eben, der Zusammenbruch ging sehr schnell, der Aufwärtstrend braucht seine Zeit und das wird noch ein paar Jahre dauern.”
Ein oder zwei Jahre wird Zuther die Saigas noch begleiten. Die funken derzeit aus dem Winterquartier im Süden Kasachstans. Wenn alles gut geht, findet Steffen Zuther sie nächstes Jahr in Betpak Dala wieder.