Film über kasachische Hungersnot heizt Nationalismus an
„Der Holocaust an den Juden Europas – sechs Millionen Opfer. Der Holodomor in der Ukraine – mehr als vier Millionen Opfer. Zulmat – die Hungersnot in Kasachstan. Innerhalb eines Jahrzehnts starben mehr als drei Millionen Menschen.“
„Zulmat – Die große Tragödie“ – So heißt auch ein 80-minütiger Dokumentarfilm des kasachischen Journalisten Zhanbolat Mamay. Er arbeitet die Hungersnot in Kasachstan Anfang der 1930er Jahre erstmals filmisch auf. Mit einer schwerwiegenden These: Die Hungersnot sei ein Genozid der Bolschewiken an den Kasachen gewesen. Und so vergleicht er die Toten dieser Hungersnot sogar mit den Toten des Holocaust.
Zur Premiere in Almaty erschienen mehr als 2.000 Zuschauer. Viele verließen das Kino tief bewegt – und überzeugt von dieser Lesart der kasachischen Geschichte.
„Man muss die Sachen beim Namen nennen“,– sagt ein Besucher, „Es sind drei Millionen Kasachen gestorben – das ist doch ein Genozid.“
Sesshaft machen mit Gewalt
Historisch ist diese Einordnung jedoch umstritten: In der gesamten Sowjetunion hatte Josef Stalin Ende der 20er Jahre die Kollektivierung der Landwirtschaft angeordnet. Bei einer brutalen Kampagne gegen Bauern und Großgrundbesitzer wurden die so genannten Kulaken nicht nur enteignet, sondern auch verhaftet, deportiert oder getötet. Millionen Kasachen, die damals noch als Nomaden durch die Steppe zogen, wurden ihres Viehs beraubt und mit Gewalt sesshaft gemacht.
Das Wegbrechen der landwirtschaftlichen Strukturen, Dürre und die repressive Kontrolle führten in der gesamten Sowjetunion zu einer Hungersnot. Robert Kindler, Osteuropa-Historiker an der Humboldt-Universität Berlin, der als einer von ganz wenigen Wissenschaftlern weltweit diese Zeit in Kasachstan untersucht hat, ordnet die Ereignisse so ein:
„In der Ukraine reden wir vor allem von 1932, 1933, was unter dem Begriff des Holodomors in der deutschen Öffentlichkeit ja auch relativ gut bekannt ist. Aber zur gleichen Zeit gibt es in vielen anderen sowjetischen Regionen auch Hunger.“
Politisch verursachte Hungersnot
Zhanbolat Mamay nennt in seinem Film diese politisch verursachte Hungersnot einen Genozid – denn rund ein Drittel der ethnischen Kasachen sei damals gestorben, kein anderes Volk habe so große Einbußen im Verhältnis zu Gesamtbevölkerung erlitten wie die Kasachen. Historiker Kindler erkennt trotzdem keinen Völkermord.
„Zunächst einmal braucht es für die Klassifikation als Genozid eine Vernichtungsabsicht, einen Hinweis darauf, dass tatsächlich eine bestimmte Gruppe vernichtet werden soll. Und das fehlt uns. Vielmehr ist es so, dass diese Menschen gestorben sind, einfach weil es – und das klingt zynisch, aber so ist es – der Führung egal gewesen ist, weil sie andere Ziele im Sinn hatte.“
Diese Argumente lässt der kasachische Filmemacher Zhanbolat Mamay nicht gelten. Er will die Verantwortlichen benennen und ein Schuldeingeständnis. Sein Adressat: Russland: „Russland muss den Genozid in Kasachstan anerkennen. Das ist die wichtigste Botschaft des Films. Und ich bin sicher, Russland wird sich irgendwann dafür entschuldigen und die Verantwortung übernehmen.“
Die Forderung Mamays ist heikel. Obwohl die Fakten über die Hungersnot seit Ende der 80er Jahre bekannt sind, wurde das Thema in Kasachstan politisch nie aufgearbeitet. Der Grund: Kasachstan ist wirtschaftlich abhängig von Russland. Das aber sieht sich auch fast 30 Jahre nach der Unabhängigkeit Kasachstans noch immer als Hegemonialmacht. Emanzipationsbemühungen wie die geplante Abschaffung der kyrillischen Schriftsprache gelten in Russland als Affront.
Auch der Krieg in der Ukraine ist in Kasachstan stets präsent. Man fürchtet ähnliche Übergriffe. – Dass die kasachische Regierung bei dieser angespannten Gemengelage offen ein Schuldeingeständnis von Russland fordert, ist undenkbar. Geäußert hat sie sich zu dem Film deshalb noch nicht.
Kasachischer Opfermythos katalysiert antirussischen Nationalismus
Zhanbolat Mamay inszeniert im Film ganz offen den kasachischen Opfermythos – und damit auch antirussischen Nationalismus. In pathetischem Ton schildert er in einer Szene, wie sich die Kasachen gegen die Bolschewisten wehrten.
„Lieber sterben wir im Kampf, als durch den Hunger“, entschieden die Kasachen und erhoben sich zur Rebellion. Von 200 unbewaffneten Menschen überlebte kein einziger. Der See Kara-ul wurde durch das Blut der Aufständischen aufgeheizt. Ihre Leichen wurden ins Wasser geworfen, wo sie versanken.“
Zhanbolat Mamay weist von sich, ethnische Konflikte zwischen Kasachen und Russen schüren zu wollen. Doch er muss wissen, dass der Film nationalistische Tendenzen befördert. Vor allem das junge, städtische Publikum sieht die Machart des Films deshalb durchaus kritisch. Dilda Kulmagambetova ist Kunsthistorikerin und arbeitet in einem Start-up. Sie ist ethnische Kasachin, und fürchtet – wie viele ihrer Freunde – die Folgen eines wachsenden kasachischen Nationalismus.
„Mir hat der Film Angst gemacht, hat gemischte Gefühle hervorgerufen. Freude, dass darüber gesprochen wird, Schmerz, weil es die Geschichte meines Volkes ist und meine Vorfahren das durchleben mussten. Aber auch Sorge darüber, wie man darauf adäquat reagieren kann, dass um Gottes Willen nicht noch irgendwelche Konflikte daraus entstehen.“
Kasachstans wirtschaftliche Lage ist derzeit alles andere als rosig. Dass der 78-jährige Staatspräsident Nursultan Nasarbajew nervös ist, zeigt die plötzliche Entlassung der kasachischen Regierung Ende Februar. Die Bevölkerung macht ihrer Unzufriedenheit mittlerweile ganz unverhohlen Luft. Ein Film wie „Zulmat“ könnte da Öl ins Feuer gießen. – Mittlerweile haben ihn mehr als 400.000 Menschen allein im Internet gesehen.