Autoritäre Reflexe: Kasachstan missbraucht Corona-Krise gegen Kritiker
In Europa scheint der Höhepunkt der Corona-Krise überschritten zu sein, zumindest was den gesundheitlichen Teil der Pandemie angeht. Wirtschaftlich steht vielen Ländern das schlimmste noch bevor. Und eine ganze Reihe von Regierungen nutzt die Krise, um die Meinungsfreiheit einzuschränken und Kritiker mundtot zu machen – das reicht von Albanien über die EU-Länder Bulgarien und Ungarn bis weit nach Osteuropa. Ein Beispiel ist Kasachstan.
Obwohl das Land ein direkter Nachbar Chinas ist, hat es die Verbreitung des Virus relativ schnell eindämmen können. Seit einer Woche ist er Ausnahmezustand offiziell aufgehoben, das Land öffnet sich wieder. Die Folgen der Pandemie werden aber noch länger zu spüren sein.
Unruhe auf dem Basar
In der kasachischen Hauptstadt Nur-Sultan – die bis vergangenes Jahr noch Astana hieß – hat der zentrale Markt nach zwei Monaten Lockdown wieder geöffnet. Doch viele Kunden sind noch nicht unterwegs. Stattdessen haben sich an diesem Tag rund 200 Ladenbesitzer versammelt, bei ihnen liegen die Nerven blank.
Durch die Corona-Krise haben die Verkäufer Wochen lang nichts verkauft. Jetzt sollen sie trotzdem im Voraus Miete für ihre Stände auf dem Basar bezahlen. Vor dem Büro der Marktleitung herrscht Gedränge, von Abstand keine Spur. Polizisten, mit Mundschutz und Walkie-Talkie am Ohr, versuchen, die Menge von rund 200 Leuten zu beruhigen.
„Wir alle haben Kredite, Hypotheken“, ruft eine Frau, und um die Kinder müsse sie sich auch kümmern. „Sind wir denn wie Hühner, die einfach Eier legen?“, erregt sich ein Ladenbesitzer.
Angespannte Lage durch Corona-Krise
Die Protestbereitschaft ist zurück in Kasachstan. – Seitdem der langjährige Präsident Nursultan Nasarbajew im vergangenen Jahr zurückgetreten war, bricht sich die Unzufriedenheit über das politische System immer wieder in Protesten Bahn. Nasarbajew Nachfolger Kassym-Jomart Tokayev bekommt den Unmut der Menschen nur schwer in den Griff.
Die wirtschaftliche Lage ist seit Langem angespannt. die Coronakrise trifft die Kasachen nun zusätzlich. Die Pandemie selbst hat Kasachstan offenbar gut bewältigt. Rund 6.200 Erkrankungen und knapp 40 Tote meldete das Land mit 18 Millionen Einwohnern bis jetzt – eine relativ geringe Infektionsquote.
Kasachstan hatte Mitte März mit rigiden Maßnahmen auf die ersten Erkrankungsfälle reagiert. Innerhalb weniger Tage war am 16. März der Ausnahmezustand verhängt worden. Ausgangssperre und Kontaktbeschränkungen wurden durch Polizei und Militär streng überwacht.
Ausnahmezustand wird gegen Kritiker genutzt
Die Krisenkommunikation kann als beispielhaft in Zentralasien gelten. Sowohl die Regierung als auch kasachische Medien berichten regelmäßig, tagesaktuell und teils auch kritisch über die Lage im Land.
Doch der Ausnahmezustand hatte auch seine Schattenseiten. Juristisch ermöglicht er der Regierung, in Krisenzeiten schnell auf Bedrohungen zu reagieren.
Dos Ilyashev aber musste erleben, dass der kasachische Staat die Art der Bedrohung nach Belieben definiert. Er erinnert sich, wie am Abend des 17. April die Polizei in die Wohnung seines Bruders eindrang.
Da sind zehn, 15 Leute in die Wohnung gestürmt. Die haben meine Eltern, die Rentner sind, mit Gewalt festgehalten. Außer den Eltern waren noch die 80-jährige Tante, mein Bruder, seine Frau und zwei kleine Kinder da. Und alle waren zu Tode erschrocken wegen des martialischen Aufgebots. Wir sind doch keine Terroristen.
Dos Ilyashevs Bruder Alnur, Jurist, Blogger und ein in Kasachstan bekannter Regimekritiker, wurde an diesem Abend Mitte April in Almaty festgenommen. Seitdem ist er in Untersuchungshaft.
Falsche Vorwürfe in der Corona-Krise
Vorgeworfen wird Alnur Ilyashev die Verbreitung von Falschinformationen während der Zeit des Ausnahmezustands und, damit die gesellschaftliche Ordnung bedroht zu haben.
In drei Facebook-Posts hatte er sich im März über die Regierungspartei Nur Otan geäußert. Die ist übermächtig in Kasachstan, erhielt bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2016 mehr als 80 Prozent der Stimmen.
Aktivist Ilyashev hatte nun Verbindungen von Parteimitgliedern zu Korruptionsfällen aufgezeigt und bissig kommentiert. Jetzt, so sein Anwalt Nurlan Rakhmanov, würden die Posts ihm zur Last gelegt.
Der Untersuchungsrichter hat ganz offen zugegeben – wahrscheinlich eher versehentlich – die sei keine strafrechtliche Sache, sondern eigentlich ein Zivilverfahren. Die Reputation der Regierungspartei Nur Otan sei verletzt worden. Trotzdem hat der Untersuchungsrichter – offenbar weil es von oben angeordnet wurde – die Verhaftung von Alnur Ilyashev genehmigt.
Schauprozess während der Pandemie
Ilyashev soll in den kommenden Wochen der Prozess gemacht werden. Bei einer Verurteilung drohen ihm drei bis sieben Jahre Haft – für ein paar Zeilen auf Facebook.
Yevgeniy Zhovtis, Chef des kasachischen Büros für Menschenrechte, ist überzeugt, der Staat nutze die Coronakrise, um langjährige Regimekritiker loszuwerden. Seine NGO unterstützt Regimekritiker wie Ilyashev juristisch. Für Zhovtis ist klar – der Fall ist politisch motiviert.
Seine kritische Meinung über die Partei Nur Otan wurde mit dem Ausnahmezustand in Verbindung gebracht. Der aber wurde ausschließlich eingeführt um die Bevölkerung vor dem Virus zu schützen. Es ist völlig unklar, welcher Zusammenhang zwischen der Gefahr durch das Coronavirus und den Facebook-Posts von Herrn Ilyashev bestehen soll.
Mit diesem Prozess, ist sich Menschenrechtler Zhovtis sicher, sollen Menschen eingeschüchtert werden – seht her, das passiert mit denen, die die Machthaber kritisieren. Denn neben Ilyashev wurden kürzlich noch mindestens drei weitere Regimekritiker festgenommen.
Das betrifft nicht nur Herrn Ilyashev. Der Vorwurf, Falschinformationen während der Zeit des Ausnahmezustands verbreitet zu haben, wird derzeit gegen eine ganze Reihe zivilgesellschaftlicher Aktivisten und Blogger genutzt. Hier wird gerade in ganz großem Maßstab unter einem Vorwand die politische Opposition verfolgt.
Autoritäre Regime nutzen Corona-Krise aus
Auch Amnesty International hatte Ende April davor gewarnt, dass die Coronakrise von den autoritären Regimen in Zentralasien gegen Kritiker genutzt werde.
Auch ein neues Versammlungsgesetz wurde während des Ausnahmezustands durchs Parlament gepeitscht. Eine öffentliche Diskussion kritischer Punkte – die für die Zivilgesellschaft in Kasachstan unter normalen Umständen durchaus möglich ist – wurde so unterbunden. Kritiker fürchten, der Staat könne durch das neue Gesetz Übergriffe seiner Behörden gegen Demonstranten legalisieren.
Wie es mit dem inhaftierten Aktivisten Alnur Ilyashev weitergeht, ist noch unklar.
Das Büro für Menschenrechte hat sich an die Vereinten Nationen gewandt und über den Fall berichtet, unter anderem beim Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte und beim UN-Sonderberichterstatter zur Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten. Einen Gerichtstermin gibt es bisher noch nicht.