Kasachstan hat eine neue Verfassung. Vor dem Hintergrund des Krieges gegen die Ukraine soll sich die «Zweite Republik» stärker emanzipieren. Doch ohne echte Demokratisierung werden weder der politische Neuanfang noch die Abkopplung von Russland gelingen.
«Salemetsiz be!», begrüsst Alexei Skalozubow die rund 25 jungen Männer und Frauen in einem Co-Working-Space in Almaty, Kasachstans grösster Metropole im Südosten des Landes – «Guten Tag» auf Kasachisch. Obwohl die Muttersprache der meisten am Tisch Russisch ist, wird hier heute Kasachisch gesprochen, in einem kostenlosen Konversationsklub für alle, die die Landessprache lernen wollen.
Seit am 24. Februar Russland die Ukraine überfallen hat, wird die offizielle Staatssprache Kasachstans immer populärer. Bisher dominiert Russisch noch in den Städten. Für eine Karriere in der Wirtschaft oder der Politik ist die Sprache ein Muss. Jetzt könnte sich das ändern. Als der 26-jährige Skalozubow den Konversationsklub im April gründete, um selber besser Kasachisch zu lernen und anderen den Einstieg zu erleichtern, war er vom Interesse völlig überrascht. «Zum ersten Treffen kamen 250 Leute, ich hatte vielleicht 10 erwartet.» Skalozubow ist selbst ethnischer Russe aus dem Norden von Kasachstan, nahe der russischen Grenze. «Dort redet fast niemand Kasachisch, auch ethnische Kasachen bevorzugen Russisch.»
Russland und seine Grossmachtfantasien
Kasachstan ist ein Vielvölkerstaat. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Zahl russischer Muttersprachler stark zurückgegangen, weil viele ausgewandert sind; die kasachischsprachige Bevölkerung dagegen wächst. Heute sind fast siebzig Prozent der rund 19 Millionen Einwohner ethnische Kasachen, knapp achtzehn Prozent ethnische Russen, der Rest Ukrainer, Tatarinnen, Uiguren oder Angehörige weiterer rund 120 Ethnien. «Angesichts des Krieges in der Ukraine», sagt Skalozubow, «werden jetzt vor allem russischstämmige Kasachen gefragt: ‹Auf welcher Seite stehst du? Bist du für oder gegen Russland?›» Er ist überzeugt: «Der grössere Teil der russischen Bevölkerung hier in Kasachstan würde, wie in der Ukraine, seine Heimat gegen Russland verteidigen.»
Jakow Worontsow ist sich dessen nicht so sicher. Der 36-Jährige ist Priester in der russisch-orthodoxen Christi-Himmelfahrt-Kathedrale in Almaty und heute zum zweiten Mal zum Sprachklub gekommen. «Wir leben in Kasachstan, also sollte jeder die Landessprache können», so seine Motivation. Zum Krieg in der Ukraine sagt er: «Der Grossteil meiner Bekannten, viele aus der älteren Generation, begrüsst den Krieg.» Er selber ist strikt dagegen und fürchtet sogar, seinen Priesterjob in der Kirche zu verlieren, weil er sich öffentlich gegen Russland ausspricht.
Kasachstan teilt eine 7500 Kilometer lange Grenze mit Russland und ist im russischen Fernsehen seit Jahren Projektionsfläche für dessen Grossmachtfantasien. Im April hatte der Moderator Tigran Keosayan, der Ehemann von Margarita Simonyan, der Chefin des russischen Propagandasenders RT, Kasachstan «Verrat an Russland» vorgeworfen und gedroht, dem Nachbarland könne das Gleiche bevorstehen wie der Ukraine. Der Grund für Keosayans Tirade: Kasachstan hatte angekündigt, am 9. Mai, dem Tag des Sieges über Nazideutschland, keine Militärparade abzuhalten – in Keosayans Augen ein Zeichen dafür, «wer Freund, wer Feind» sei. In Kasachstan wurden diese Äusserungen überwiegend ablehnend kommentiert. Das kasachische Aussenministerium hat ihn gar auf die Liste «unerwünschter Personen» gesetzt.
Umgehung der Sanktionen befürchtet
Kasachstan versucht, angesichts des Krieges gegen die Ukraine möglichst neutral zu bleiben. Doch das ist gar nicht so einfach, denn es bestehen politische und wirtschaftliche Abhängigkeiten. Anfang April hatte Aussenminister Muchtar Tileuberdi erklärt, Kasachstan erkenne die sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk in der Ukraine nicht an. Als jedoch die Uno-Generalversammlung Ende März über eine Resolution abstimmte, die Russland für seinen Angriffskrieg verurteilte, enthielt sich Kasachstan. Eine grosse Demonstration in Almaty zur Unterstützung der Ukraine im März wurde genehmigt, andere mit dem gleichen Ziel verboten. Offene Kritik an Russland übt in Kasachstan kaum jemand.
Die kasachische Osteuropahistorikerin Botakoz Kassymbekowa, die an der Universität Basel lehrt, ist überrascht, dass Kasachstan mehrfach öffentlich die Souveränität der Ukraine hervorgehoben und klargemacht hat, keine Truppen für Putins Krieg schicken zu wollen. «Diese mutige Position», sagt sie, «ist damit zu erklären, dass Kasachstan tatsächlich seit Jahren nach echter Souveränität strebt und nicht von Russland regiert werden will. Aber auch damit, dass die kasachische Elite nicht unter Sanktionen und deren Folgen leiden und nicht gemeinsam mit Russland hinter einem neuen Eisernen Vorhang sein will.»
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