scinexx.de, 06.02.2009
Im Sommer 1903 ist Gottfried Merzbacher, ein deutscher Geograph und Forschungsreisender, schon das zweite Jahr in Folge im Tien Shan in Zentralasien unterwegs. Gemeinsam mit dem Ingenieur Hans Pfann, dem Bergführer Franz Costner und Hans Keidel, einem Geologen, hat er sich vorgenommen, das „Himmelsgebirge“, wie der Tien Shan von den Chinesen genannt wird, genauer zu erkunden.[inspic=395,left,fullscreen,425]
In seinem späteren Reisebericht bezeichnet Merzbacher die Expedition als „Jagd nach einem verzauberten Berg, den man von überall her erblickt, aber nicht erreichen kann“. Dieser Zauberberg ist der Khan Tengri, der nördlichste Siebentausender der Erde, den Merzbacher noch auf eine Höhe von 7.200 Metern schätzt und der bis zu seinen Erkundungen als zentraler Punkt des Tien Shan gilt. Beides erweist sich später als falsch.
Das Ziel von Merzbachers Reise ist es, die genaue Lage des Khan Tengri zu ermitteln. Denn in den russischen Karten – die einzigen, die es zur Jahrhundertwende von dem Gebiet gibt – ist der Berg überall an einer anderen Stelle eingezeichnet.[inspic=401,left,fullscreen,425]
Doch der Zugang zum Khan Tengri erweist sich als schwierig. Mehrfach scheint der Forscher dem Berg ganz nahe zu sein. Doch immer wieder tun sich neue Täler oder Bergrücken vor ihm auf, die den Weg versperren.
Zudem leidet Merzbachers Expedition unter den schwierigen Bedingungen. „Von allen Hochgebirgen der Erde sind wohl die zentralasiatischen, also auch der Tien Shan, die am schwersten zugänglichen“, schreibt Merzbacher in seinem Reisebericht. Mit den Alpen, selbst mit dem Kaukasus sei dies nicht zu vergleichen. Er erforsche hier Gletscher, „die zu den größten kontinentalen Eisströmen gerechnet werden müssen“.[inspic=400,left,fullscreen,425]
Merzbacher geht den Tien Shan aus westlicher Richtung an und durchkreuzt ihn, bis er in China landet. Riesige Blockgletscher – mit Felsblöcken und Schutt überlagertes Eis – versperren der Expedition häufig den Weg. Sie zu überqueren, verlangt der gesamten Mannschaft das äußerste ab.
Die Kirgisen, die er als Träger engagiert hat, erweisen sich trotz der von Merzbacher gesponsorten Ausrüstung – genagelte Schuhe, Steigeisen, Schneereifen, Eispickel – als unerfahren bei der Überquerung der Gletscher. Als Nomaden seien sie zum einen gewohnt, stets zu reiten anstatt zu Fuß zu gehen, andererseits hätten sie nie den Grund, sich im schwierigen Hochgebirge zu bewegen, urteilt Merzbacher.[inspic=396,left,fullscreen,425]
Mehrmals stürzen Träger und Pferde auf Geröllhalden oder bei Flussdurchquerungen, kostbare Ausrüstungsgegenstände gehen verloren. Im ersten Jahr der Expedition verliert Merzbacher 60 belichtete Fotoplatten, weil sich die Blechkisten bei einem Sturz ins Wasser als undicht erweisen.
Dennoch behält Merzbacher sein Ziel, den Khan Tengri, im Auge. Und im Sommer 1903 scheint er ihm nahe wie nie zuvor. Er ist den insgesamt 75 Kilometer langen Inyltschek-Gletscher hinaufgestiegen, an dessen Ende er den Fuß des Khan Tengri vermutet. Etwa drei Kilometer vom Ende der Gletscherzunge aufwärts teilt sich der Inyltschek in zwei Eistäler, die durch einen riesigen Felsgrat voneinander getrennt sind. Merzbacher entscheidet sich für den linken, nördlichen Strang und steigt hier weiter hinauf.[inspic=398,left,fullscreen,425]
„Dort standen wir plötzlich vor einer weiteren Senkung, ausgefüllt von einem riesigen Eissee, aus dessen tiefblauen Fluten Tausende kleiner, mannigfaltig geformter Eisberge und Schollen herausragten. Ein prachtvoller Anblick!“, schreibt Merzbacher. Doch die Freude währt nicht lange. Der See versperrt das Tal, ein Vorbeikommen ist nicht möglich. „So lag denn das lang ersehnte und schwer umkämpfte Ziel nunmehr verheißungsvoll nahe und konnte dennoch nicht erreicht werden.“
Unbeirrt kämpft sich Merzbacher jedoch auch den zweiten Gletscherstrang hinauf und gelangt schließlich tatsächlich an den Fuß des Khan Tengri. „Nicht die geringste Vorlagerung verdeckte mehr etwas von dem so lange geheimnisvoll versteckten Fuße des Bergs. Unmittelbar an seinem Südfuße befand ich mich und betrachtete staunend, bewundernd, forschend die ungeheure Gestalt. Die Spannung der letzten Wochen, die in den letzten Tagen bis zur Unerträglichkeit gesteigert war, löste sich nun mit einem Male. Das mit aller Kraft des Denkens und Wollens erstrebte Ziel war erreicht.“[inspic=402,left,fullscreen,425]
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