Der Attentäter von New York kam aus Usbekistan. Dass sich immer mehr aus Zentralasien stammende Männer radikalisieren, hat mit der Situation in ihrer Heimat zu tun – aber auch mit Versäumnissen bei der Integration in den Aufnahmeländern.
Wieder hat es einen islamistisch motivierten Terroranschlag gegeben, diesmal in New York. Und wieder – wie zuvor in Istanbul, St. Petersburg und Stockholm – ist der Täter ein Usbeke. Der «Terrorhort» Zentralasien sei unterschätzt worden, heisst es jetzt in westlichen Medien. Das Wiederaufleben des Islam nach dem Ende der Sowjetunion in dieser Region habe zwangsläufig zur Radikalisierung von Tausenden Muslimen geführt.
5.000 IS-Kämpfer aus Zentralasien
Tatsächlich haben sich laut einem im Oktober veröffentlichten Bericht des New Yorker Soufan Center rund 5000 Kämpfer aus Zentralasien islamistischen Milizen im Nahen Osten angeschlossen. Usbekistan, das mit 32 Millionen bevölkerungsreichste Land der Region, stellt laut der Studie mehr als 1500 Kämpfer, das mit seinen acht Millionen Einwohnern kleinere Tadschikistan rund 1300. Aus Russland kommen über 3400 Dschihadisten.
Ja, die für die Terroranschläge in Istanbul, St. Petersburg, Stockholm und nun in New York verantwortlichen Täter waren ethnische Usbeken. Drei von ihnen wuchsen in Usbekistan auf, einer gehörte der usbekischen Minderheit in Kirgistan an.
Die Schlussfolgerung allerdings, Zentralasien sei eine Brutstätte für islamistische Terroristen, greift zu kurz. Denn allen Tätern war auch gemein, dass sie seit Jahren nicht mehr in ihren Heimatländern in Zentralasien gelebt hatten. Sayfullo Saipov, der am vergangenen Dienstag im New Yorker Stadtteil Manhattan acht Menschen tötete, hatte Usbekistan 2010 mit einer Greencard verlassen und lebte seitdem in den USA. Die anderen Täter lebten in Russland.
Auswanderung aus Perspektivlosigkeit
Damit gehörten sie zu jenen sechs bis acht Millionen Zentralasiaten, die als Wirtschaftsmigranten dauerhaft im Ausland leben. Denn in den Heimatländern können viele Usbeken, Kirgisen oder Tadschiken ihre eigenen Familien nicht ernähren, weil es weder Arbeit noch Perspektiven auf eine wirtschaftliche Besserung gibt. Ihre Rücküberweisungen machen zwischen 20 und 50 Prozent der Bruttoinlandprodukte von Usbekistan, Kirgistan oder Tadschikistan aus – ein erheblicher Wirtschaftsfaktor.
Insbesondere Usbekistan gilt als einer der repressivsten Staaten der Welt. Die Politik des im vergangenen Jahr verstorbenen Diktators Islam Karimov, der Usbekistan seit 1991 regiert hatte, war durch Menschenrechtsverletzungen, Folter und Terror geprägt. Religion war nur unter staatlicher Kontrolle erlaubt. Wer sich gegen die systematische Überwachung, oft durch Nachbarn oder Freunde, wehrte, landete auf schwarzen Listen oder im Gefängnis. Die säkulare Regierung nutzte den Verdacht islamischer Radikalisierung als Vorwand, um Regimegegner und deren Familien ins Gefängnis zu bringen. Fast jeder, dem es möglich war, entfloh diesem repressiven Regime.
Dieser Kontext sei wichtig, um die Radikalisierungsgeschichte usbekischer Täter zu verstehen, sagt Edward Lemon, Wissenschaftler am Harriman-Institut für Russland-, Eurasien- und Osteuropa-Studien an der Columbia University in New York. Deren besondere Anfälligkeit ergebe sich aus der Kombination der in der Heimat erlebten Repression und den gescheiterten Erwartungen an ihr neues Leben. Fern der Heimat wendeten sie sich der Religion als Quelle von Identität zu. «Zudem vermissen junge Migranten den ausgeprägten Gemeinschaftssinn des Familienverbandes in Usbekistan, der Radikalisierung verhindern kann», so Lemon. Usbeken in der Diaspora erlebten fast täglich Fremdenfeindlichkeit. «Das nutzen Islamisten gezielt aus und rekrutieren jene entwurzelten Migranten, die durch als Erniedrigung erlebte Ungerechtigkeiten besonders anfällig für radikale Ideen sind.»
Kleiner Hoffnungsschimmer durch neuen Präsidenten
Zwar hat sich, wie die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in einem im Oktober veröffentlichten Bericht konstatiert, die Menschenrechtslage in Usbekistan seit dem Machtantritt des neuen Präsidenten Shavkat Mirziyoyev im Dezember des vergangenen Jahres zum Besseren gewandt. Seit Jahren inhaftierte politische Aktivisten und Journalisten wurden freigelassen. Die Zwangsarbeit auf Baumwollfeldern für Lehrer, Studenten oder Ärzte wurde in diesem Jahr von Mirziyoyev persönlich verboten. Doch ein über Jahrzehnte aufgebauter Polizeistaat verschwindet nicht einfach innerhalb von Monaten.
Der Artikel erschien am 04.11.2017 in der Luzerner Zeitung