Kirgistan: Fern der Heimat - Kirgisen zieht es zur Arbeit ins Ausland
Vor zwei Jahren wurde die “Tulpenrevolution” in Kirgistan als Sieg der Demokratie gefeiert. Doch der damals zum Präsidenten gewählte Kurmanbek Bakijew und seine Regierung rieben sich in den vergangen zwei Jahren wiederholt in Machtkämpfen auf und konnten das Land weder politisch noch wirtschaftlich stabilisieren. Auf der Suche nach Arbeit verlassen deshalb jährlich etwa eine Million Kirgisen ihr Land in Richtung Russland oder Kasachstan.
Am 16. Dezember wählen die Kirgisen nun ein neues Parlament. Kritiker vermuten, dass auch die anstehenden Wahlen kein Schritt in Richtung Demokratisierung sein werden.
Dabei gilt Kirgistan als das liberalste Land in Zentralasien: Geschickt wahrt es seine Interessen sowohl gegenüber den USA, die hier ihre letzte Militärbasis in Zentralasien betreiben, als auch gegenüber Russland, das hier vor allem als Investor auftritt. Mehr als 100 Parteien sind registriert, wenn auch oft ohne Rückhalt in der Bevölkerung. Denn die ist vom Ergebnis der “Tulpenrevolution” enttäuscht. Rund eine Million Menschen – ein Fünftel aller Kirgisen – gelten mittlerweile als Arbeitsmigranten. Eine Reportage über Kirgisen, die ihr Land verlassen, um Arbeit zu finden.
Der Basar Dordoy, eine halbe Stunde von der kirgisischen Hauptstadt Bischkek entfernt: Container sind zu Ladenstraßen aufgereiht, dazwischen ein steter Menschenstrom, der sich über matschige Wege wälzt. Männer schieben Packkarren vorbei, fliegende Händlerinnen preisen Fladenbrote an.
Sagyn Kojomuratow – groß gewachsen, schwarze Harre und mit einer roten Outoor-Jacke – bahnt sich zielsicher einen Weg durch das Labyrinth und langt schließlich bei einem Container an. Er begrüßt seine Bekannte, die auf Kunden wartet. Um sie herum hängen Dutzende von Lederjacken und -mäntel, braun, schwarz, beige, mit oder ohne Fellkragen, vor allem dick-wattierte Wintermodelle.
“Hier kaufe ich ein. Von jeder Jacke nehme ich jeweils fünf oder zehn Stück. Zwei oder drei solche großen Kisten werden voll. Die Sachen kommen aus China hierher, und wir bringen sie weiter nach Almaty oder Astana.”
Sagyn, 41 Jahre alt, ist Kirgise. Aber mehr als die Hälfte seines Arbeitslebens hat er außerhalb Kirgistans verbracht. Zusammen mit seiner Frau war er acht Jahre lang Händler in Wladiwostok in Russland. Und seit einem Jahr arbeiten beide in Kasachstan, auf einem Basar wie diesem, in Astana, der kasachischen Hauptstadt. Jetzt ist er nur für ein paar Tage nach Bischkek gekommen – um neue Ware zu holen.
“Einmal oder zweimal im Monat komme ich hierher, das hängt davon ab, wie der Verkauf läuft, wenn es schlecht läuft, komme ich nur einmal. Die Jacken hier verkaufen sich nicht so gut, vielleicht zwei oder drei in der Woche werde ich los. Für 7000 Tenge bekomme ich sie hier, für 11.000 oder 12.000 verkaufe ich sie weiter.”
Etwa 850 Euro verdient Sagyn auf diese Weise im Monat, weniger als in Russland, sagt er.
Sagyn ist einer von rund 650.000 Kirgisen, die jedes Jahr ihr Geld im Ausland verdienen. Das sind mehr als zehn Prozent von nur fünf Millionen Einwohnern insgesamt. Hauptziele der Arbeitsmigranten sind das benachbarte Kasachstan und Russland, wo die Wirtschaft boomt. Kirgistan dagegen hat Wachstumsraten von nur zwei Prozent und eine Auslandsverschuldung von rund zwei Milliarden Euro.
Etwa 650 Millionen Euro haben kirgisische Gastarbeiter im vergangenen Jahr an ihre Familien in Kirgistan geschickt. Schlechte Bezahlung, fehlende Arbeitsplätze und mangelnde Perspektiven treiben die Kirgisen aus ihrer Heimat.
Auch der 30-jährige Almas aus Talas hofft, in Russland sein Glück zu machen und so seine Familie zu unterstützen. 200 Dollar verdient er zurzeit auf dem Basar in Talas. Jetzt will er auf den Bau nach Moskau. Er hat eine Stellenanzeige gefunden, in der eine türkische Baufirma kirgisische Arbeitskräfte für Russland sucht. 600 Dollar soll man dort monatlich verdienen, den Flug von Bischkek nach Moskau, Unterkunft und Essen bezahlt angeblich die Firma. Almas ist nicht sicher, ob das Angebot seriös ist.
Mit der Anzeige in der Hand geht er zu einer staatlichen Beratungsstelle für Arbeitssuchende in Bischkek. Lydia Pawlowna, eine resolute Mittfünfzigerin, beruhigt ihn.
“Also ich versichere Ihnen, dass man dort arbeiten kann.”
Lydia Pawlowna arbeitet für das staatliche Migrationskomitee, das zum kirgisischen Ministerium für Arbeit gehört und im vergangenen Jahr gegründet wurde.
Dass die Arbeitsmigranten außer Landes unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen leben und ausgebeutet werden, hat mittlerweile auch die kirgisische Regierung verstanden. Jedes Jahr schleusen Schlepperbanden hunderte arbeitswillige Kirgisen über die Grenzen, und locken sie auf Tabakplantagen in Kasachstan oder auf Großbaustellen in Russland. Dort müssen sie fast rund um die Uhr arbeiten, leben auf engstem Raum und warten monatelang auf ihren Lohn. Deshalb unterstützt man die Ausreisewilligen bei der Arbeitssuche und vermittelt sie an seriöse Arbeitgeber im Ausland.
Auf staatlicher Ebene hat Kirgistan bilaterale Vereinbarungen mit Kasachstan und Russland getroffen, um die Rechte der Migranten zu stärken. Die können nun, wenn nötig, vor Gericht gegen unfaire Arbeitgeber klagen und erhalten juristische Beratung. Laut Almas Assanbajew, stellvertretender Direktor des Migrationskomitees, habe Russland die Einwanderung mittlerweile vereinfacht: Man benötige Immigranten, die sich dauerhaft in Russland niederließen. In Kasachstan sei die Situation schwieriger.
“Unsere Leute wollen dort arbeiten, und es gibt Arbeitgeber, die Arbeit anbieten. Aber auf der Gesetzesebene ist der Prozess sehr bürokratisch, es ist unheimlich schwer, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Sie sagen, es gäbe eine hohe Arbeitslosigkeit in Kasachstan und sie müssten erst mal ihre eigenen Leute mit Arbeit versorgen. Sie verstehen nicht, dass die Arbeitsmigranten genau dort arbeiten, wo die Einheimischen nicht arbeiten möchten.”
Eine Folge dieser restriktiven Politik in Kasachstan – viele Kirgisen arbeiten hier illegal. Auf einer Baustelle im kasachischen Almaty, 300 Kilometer von Bischkek entfernt: Wo das neue Finanzzentrum der Wirtschaftsmetropole entsteht, wächst alle hundert Meter ein Glaspalast aus dem Boden. Hier arbeiten Dutzende Kirgisen. Vor dem Mikrofon reden, möchten sie nicht. Zu groß ist die Angst, dass Arbeitgeber und Einwanderungspolizei davon erfahren, und sie nicht nur den Job verlieren, sondern auch des Landes verwiesen werden.
Kasachstan hat eine Quote für ausländische Arbeitnehmer: Rund 65.000 erhalten pro Jahr eine Arbeitserlaubnis, etwa die Hälfte davon sind Kirgisen. Die Internationale Organisation für Migration, IOM, geht davon aus, dass mehr als doppelt so viele Migranten illegal in Kasachstan sind.
Zlatko Zigic, Chef von IOM Kirgistan, sieht die größten Probleme jedoch nicht auf Regierungsebene. Sowohl Kirgistan als auch Kasachstan und Russland bemühten sich um die nötigen Gesetzesreformen.
“Das Problem heute ist die Strafverfolgung. Auf ministerieller Ebene versteht man das. Wer es nicht versteht, sind die Beamten, die an der Basis arbeiten, der einfache Polizist auf der Straße, die Grenzbeamten am Flughafen. Das heißt, die Regierung tut viel, aber das Land ist arm, man hat an der Basis Leute, die korrupt sind, und wie man sagt, ein verfaulter Apfel verdirbt die ganze Kiste voller Äpfel.”
Trotz der Reformen zur Legalisierung von Migranten bleibt ein Problem bestehen: Solange es Kirgistan nicht gelingt, seine Wirtschaft zu reformieren und im Lande Arbeitsplätze zu schaffen, werden die Kirgisen im Ausland nach Arbeit suchen.
Raukhan Tologonow, einer der führenden Köpfe der Oppositionspartei Atameken, die als eine von zwölf Parteien bei den kommenden Parlamentswahlen antritt, ist davon überzeugt, dass die Arbeitsmigration durchaus auch positive Seiten hat – die Arbeiter würden sich weiterqualifizieren. Und ganz sicher kämen sie über kurz oder lang nach Kirgistan zurück.
Dennoch hätten die jetzige Regierung und Präsident Kurmanbek Bakijew seiner Meinung nach versagt und die nötigen Wirtschaftsreformen den eigenen Interessen hintenangestellt.
“Es sollen vor allem Investoren bedient werden. Anstatt die Investitionen aber nur sich selbst zukommen zu lassen, sollte der Staat Strukturen schaffen, um die Regionen zu entwickeln. Wenn Betriebe gegründet werden, erhalten sie keinerlei Unterstützung vom Staat, Kredite werden nur mit kurzen Laufzeiten vergeben mit Zinsen von 20 Prozent aufwärts. Um eine Kuh melken zu können, muss man ihr zu fressen geben. Bei uns ist es genau andersherum, wir melken zuerst, und schicken sie dann Futter suchen.”
Ob die anstehenden Parlamentswahlen Kirgistan stabilisieren werden, sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht, ist für Sagyn, den Jackenhändler, der zwischen Kirgistan und Kasachstan pendelt, kein großes Thema. Am Abend, bevor Sagyn wieder nach Kasachstan fährt – rund 1.300 Kilometer mit dem Bus liegen vor ihm – sitzt die Familie mit Freunden zusammen. Man isst, trinkt Wodka, singt kirgisische Lieder. Kirgistan ist ihre Heimat, sagen sie.
Trotzdem wollen sie weg. Derzeit überlegen sie, ob sie wieder nach Russland gehen – und vielleicht sogar die russische Staatsbürgerschaft annehmen.