Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine hat ein anderes osteuropäisches Land wieder aus den Schlagzeilen verschwinden lassen – Kasachstan. Auch dort wurden russische Elitesoldaten gegen vermeintliche “Terroristen” eingesetzt. Im Januar 2022 hatten blutige Unruhen das als „stabile Autokratie“ geltende Land in Zentralasien erschüttert. Die Ursachen liegen tief und bedürfen der Differenzierung. Ein Regimewechsel blieb aus. Deshalb hat Kasachstan die größten Schwierigkeiten noch vor sich – und setzt dabei auch auf Deutschland als ein Vorbild und wichtigen Partner, berichtet Edda Schlager aus Kasachstan dem Deutschland Archiv. Zugleich wachsen die Sorgen vor einer Intervention.
Seit den blutigen Januar-Unruhen in Kasachstan sind über zwei Monate vergangen. Das Land ist aus der medialen Berichterstattung in Deutschland nahezu komplett verschwunden. Viele Menschen in Kasachstan jedoch haben das Trauma jener Tage noch nicht verarbeitet, denn dies war keine friedliche Revolution, wie Ende 1989 in der DDR. Regierungsangaben zufolge kamen im Zusammenhang mit den Unruhen 227 Menschen ums Leben, darunter 19 Angehörige der kasachischen Sicherheitskräfte, über 4.500 Menschen wurden verletzt, mehr als 10.000 Menschen verhaftet. Einige sind noch immer nicht auf freiem Fuß. Viele der Verhafteten wurden offenbar im Polizeigewahrsam misshandelt, manche ihren Familien nur noch tot übergeben. Zahlreiche Menschen werden noch immer vermisst. Wer die Opfer der ersten Januartage sind und wer vor allem die Täter, ist noch immer unklar. Die kasachische Regierung hat Untersuchungen eingeleitet, aber bisher keine belegbaren Erkenntnisse zu Verantwortlichen veröffentlicht. Lokale Menschenrechtsaktivisten und Bürgerrechtler sind dabei, die Namen der Getöteten und Verletzten zu recherchieren und ihre Fälle zu dokumentieren. Auch eine unabhängige „Wahrheitskommission“ aus Juristen sowie Menschenrechtlern hat sich gebildet. Wie kaum ein anderes Ereignis während der 30-jährigen Unabhängigkeit Kasachstans wird sich der „blutige Januar“ – oder auf Kasachisch „Qantar 2022“, wie die Ereignisse in sozialen Medien genannt werden, – ins kollektive Gedächtnis des Landes einbrennen.
Kaum bekannt – und plötzlich im Fokus
Während die Aufarbeitung läuft, ist wieder der Alltag in Kasachstan wieder eingezogen. Der Ausnahmezustand ist in allen Regionen des Landes aufgehoben, der internationale Flugverkehr längst wieder aufgenommen, die Zerstörungen sind weitestgehend beseitigt. In Almaty zeugen die verkohlte, abgehängte Fassade der Stadtverwaltung, des Akimats, und Bauarbeiten zur Rekonstruktion des Gebäudes von der Gewalt, die sich hier in der ersten Januarwoche Bahn gebrochen hatte.
Die Bilder vom brennenden Akimat in Almaty, vom Sturm auf die Präsidentenresidenz, von ausgebrannten Fahrzeugen, Plünderungen und Tausenden Menschen auf den Straßen, von Blendgranaten und Maschinengewehrsalven, die in die Menschenmenge gerichtet waren, hatten in der ersten Januarwoche weltweite Aufmerksamkeit erregt. Regelrecht verdutzt wendete man sich dem größten Binnenland der Erde zu, über das nur wenig bekannt ist, das bis dahin aber als „stabile Autokratie“ galt.
Auch in Deutschland ist wenig über Kasachstan bekannt. Es ist eine von fünf Ex-ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien, die früher als der „Hinterhof“ der Sowjetunion galten und damals vor allem agrarisch geprägt waren. Während des Zweiten Weltkriegs hatte Stalin 444.000 Deutsche, die in der Sowjetunion lebten, nach Kasachstan deportieren lassen, die dort unter Geheimdienstaufsicht als „Arbeitsarmisten“ arbeiten mussten, vor allem auf Baustellen, im Bergbau und in der Forstwirtschaft.
Als neuntgrößtes Land der Erde zählt Kasachstan heute zwar nur 19 Millionen Einwohner, hat aber eine ausgesprochen junge Bevölkerung mit einem Durchschnittsalter von 32 Jahren. Ein Drittel sind Kinder unter 17 Jahren, weitere 20 Prozent sind jünger als 28, so das Ergebnis der jüngsten Volkszählung im vergangenen Jahr.
Lokale Wirtschaftsmacht mit sozialer Ungleichheit
Kasachstan ist mittlerweile das wirtschaftlich stärkste Land in Zentralasien, mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von knapp 204 Milliarden. US-Dollar im Jahr 2021, das BIP pro Kopf liegt bei rund 10.000 US-Dollar. Es ist eines der rohstoffreichsten Länder der Erde, verfügt über riesige Vorkommen an Erdöl, Erdgas, Erzen, und Kohle und ist einer der weltweit wichtigsten Uran-Produzenten. Als Transitland zwischen China, Russland und dem Kaspischen Raum hat es zunehmend Bedeutung als Teil der „Neuen Seidenstraße“ zwischen Asien und Europa.
Doch im Land herrscht eine enorme Ungleichverteilung des Vermögens. Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt bei 350 Euro. Eine Studie der Unternehmensberatung KPMG aus dem Jahr 2019 stellte fest, dass 162 Personen, das entspricht 0,001 Prozent der Bevölkerung, über mehr als 50 Millionen US-Dollar verfügen – rund 50 Prozent des Gesamtvermögens der Bevölkerung.
Im Januar dieses Jahres nun geriet Kasachstan an den Rand eines politischen Umsturzes. Dass es dazu nicht kam, ist den gesellschaftlichen und politischen Besonderheiten des Landes geschuldet. Diese werden auch darüber entscheiden, ob die Ereignisse zu einem politischen Wendepunkt werden. Oder ob sie erst der Beginn weiterer gesellschaftlicher Verwerfungen sind.
Von einer Revolution ist im Januar keine Rede
Eine Farbrevolution – wie sie der russische Präsident Wladimir Putin mit dem Fingerzeig auf mögliche westliche Verursacher ausgemacht zu haben meinte, und wie zahlreiche westliche Medien sie nahezu herbeischrieben – fand in Kasachstan nicht statt. Das zumindest meint Marlies Linke von der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS). „Ich würde warnen, das abzuleiten“, so die Leiterin des Regionalbüros Zentralasien der Stiftung in Almaty. „Solche Rezepte lassen sich nicht ohne Weiteres in andere Länder übertragen. In Kasachstan hat eine ganz eigene innenpolitische Konstellation zu den Ereignissen geführt.“ Für ein tieferes Verständnis des Zusammenwirkens innerer wie äußerer Faktoren und der beteiligten Akteure seien weitere Quellen nötig, so Linke.
Lokale Medien, NGOs und die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) haben die Chronologie der Ereignisse in Kasachstan teilweise rekonstruiert. Demnach scheint mittlerweile eines sicher: Aus anfangs friedlichen Protesten wurden gewalttätige und blutige Ausschreitungen – aber erst, als weitere Gruppen von Akteuren hinzustießen, die, möglicherweise gezielt, die Protestlage für eigene Zwecke instrumentalisierten und damit die Dynamik im Verlauf der Geschehnisse maßgeblich bestimmten.
„Die Ereignisse im Januar sind nach wie vor schwierig zu interpretieren“, sagt Christoph Mohr vom Regionalbüro für Kasachstan und Usbekistan der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), der zweiten politischen Stiftung aus Deutschland, die in der Region mit eigener Repräsentanz vor Ort ist. „Die Demonstrationen gingen jedenfalls nicht auf eine homogene Gruppe zurück, die einheitliche politische Forderungen hatte.“
Unterschiedliche Akteure
Beobachter haben mittlerweile drei Gruppen ausgemacht, die im Laufe der Geschehnisse auf den Plan traten. „Die Proteste“, so Mohr, „waren zunächst rein wirtschaftlich motiviert. Sie richteten sich gegen die Wirtschaftsarchitektur in Kasachstan, die Ungleichheiten mit sich bringt, beispielsweise zwischen Stadt und Land.“
Ausgangspunkt, so viel ist klar, waren zunächst friedliche Proteste, die am 2. Januar 2022 in Zhanaozen, einer Ölarbeiter-Stadt im Westen des Landes, begonnen hatten. Der Anlass waren gestiegene Preise für den Kraftstoff LPG (Liquified Petroleum Gas, Flüssiggas), der in vielen ländlichen Regionen Kasachstans für Pkw genutzt wird. In Zhanaozen hatten Demonstrierende gegen die massive Preiserhöhung von umgerechnet rund 10 auf etwa 18 Cent pro Liter protestiert.
In der Folge solidarisierten sich Menschen in ganz Kasachstan mit den Protesten in Zhanaozen. Wie ein Flächenbrand breiteten sich Demonstrationen im ganzen Land aus und nahmen schnell eine politische Agenda an – mit Forderungen gegen schlechte Lebensbedingungen, Arbeitslosigkeit, die weit verbreitete Korruption, für mehr politische Teilhabe. „Das war die zweite Gruppe von Akteuren bei den Demonstrationen“, so Christoph Mohr von der FES. „Sie sind bereits von früheren Protesten bekannt und fordern schon seit längerem einen Systemwandel.“
Zunächst in Aktau, dann in der Hauptstadt Nur-Sultan, in Karaganda, Semey, Shymkent, in anderen Gebietshauptstädten und in der mit zwei Millionen Einwohnern größten Stadt des Landes, Almaty, gingen Demonstranten auf die Straße. Die Polizei versuchte, die nach wie vor friedlichen Proteste durch Verhaftungen einzudämmen – mehrere hundert Menschen kamen in Arrest. Als am 4. Januar landesweit bereits mehrere Tausend Menschen protestierten, setzten Sicherheitsbehörden Blendgranaten, Tränengas und Gummigeschosse ein, um die Demonstrationen aufzulösen.
Als Augenzeuge in Almaty
Philipp Dippl, ein aus Bayern stammender Deutscher, der seit 2018 in Kasachstan lebt und derzeit dabei ist, in Almaty eine Tourismusfirma aufzubauen, erlebte die folgenden Tage als Augenzeuge. „Zwei Tage lang hat in Almaty komplette Anarchie geherrscht“, erinnert er sich, und gleicht seine Erlebnisse immer wieder mit denen von Freunden und Bekannten ab. Als einer von wenigen westlichen Ausländern – viele waren in den Weihnachtsferien in der Heimat – war er vor Ort.
Am Nachmittag des 5. Januar hält es Dippl nicht mehr zuhause aus. In Almaty ziehen seit dem Vortag Qualmwolken durchs Zentrum, die Dippl von seiner Wohnung aus sieht. Immer wieder erschüttern Detonationen die Luft. Er verlässt seine Wohnung und macht sich zu Fuß auf zum Platz der Republik im Zentrum, da, wo seit dem vorherigen Tag Menschen gegen das Regime von Präsident Tokayev protestieren und mehr politische Teilhabe fordern.
Er läuft aus Richtung der schneebedeckten Berge, die im Süden der Zwei-Millionen-Metropole aufragen, westlich des Akimats entlang, die Zheltoksan-Straße hinunter, vorbei am Gebäude des staatlichen kasachischen Fernsehsenders Qazaqstan TV, das von Demonstranten belagert wird, und biegt dann nach rechts ab. Damit befindet er sich unterhalb vom Platz der Republik, von dem ihn zwei große Bürogebäude trennen. Wenn er zwischen ihnen hindurch schaut, sieht er das Unabhängigkeitsdenkmal, einen riesigen Obelisken mit goldenem Skythen-Krieger auf der Spitze, und das Gebäude des Akimats, die sich gegen die Berge abheben.
„Direkt auf den Platz zu gehen und mich unter die Menschen zu mischen, erschien mir zu gefährlich“, schildert er die Situation. „Da befanden sich wohl mehrere Hundert, vielleicht Tausend Menschen, und alles war sehr unübersichtlich.“. Dippl überlegt nicht lange und hält mit dem Handy fest, was um ihn herum geschieht. Mit seinen Fotos dokumentiert er – das zu diesem Zeitpunkt nicht ahnend –, wie die friedlichen Proteste in gewalttätige, blutige Unruhen umschlagen.
Friedlicher Protest schlägt in Gewalt um
„Am Nachmittag des 5. Januar waren sehr viele junge Männer mit Latten, Stöcken und teilweise mit Polizeischilden ausgerüstet auf dem Platz“, erinnert er sich. Schusswaffen habe er nicht gesehen, aber vereinzelt Maschinengewehrsalven aus der Ferne gehört. „Die Stimmung war aggressiv. Plötzlich wurde ich von einem jungen Mann angegriffen, weil ich Fotos machte.“ Dippl wird in die Hüfte getreten, andere um ihn herum ziehen den Angreifer weg und verhindern damit Schlimmeres. Mittlerweile brennen Polizeiautos auf dem Platz und den umliegenden Straßen. Dicker Qualm vernebelt die Szenerie. Dippl sieht, dass sowohl das Akimat, als auch die Präsidentenresidenz rund 200 Meter südlich von seinem Standortpunkt in der Nähe des Unabhängigkeitsdenkmals in Flammen stehen. Er hört Maschinengewehrfeuer aus Richtung der Residenz. Und ihm wird klar, dass die Lage brenzlig wird. „In dem Moment habe ich nicht wirklich realisiert, wie gefährlich die ganze Situation war. Das ist mir eigentlich erst hinterher bewusst geworden.“
Zur selben Zeit, an dem sich Dippl nördlich vom Platz der Republik aufhält und sich von dort wieder auf den Nachhauseweg macht, sterben an der Präsidentenresidenz die ersten Menschen. Das rekonstruiert Human Rights Watch in einem am 1. Februar veröffentlichten Bericht. Während am Akimat Sicherheitskräfte überrannt werden und sich teils im Keller vor den Angreifern in Sicherheit bringen, eröffnen Kadetten und Polizeioffiziere bei der Verteidigung der Residenz das Feuer. „HRW hat auf Video-Mitschnitten der Ereignisse mindestens 19 Verletzte und zehn Tote ausgemacht“, heißt es in dem Bericht. Darin werden vier Vorfälle aufgrund von Interviews und Video-Auswertungen ausführlich beschrieben, in denen Sicherheitskräfte Waffengewalt anwendeten.
Ein Land im Informationsvakuum
Am Nachmittag des 5. Januar 2022 wird in Kasachstan das Internet abgeschaltet. Bereits an den Tagen zuvor war immer wieder punktuell und zeitlich begrenzt der Zugang zum Internet blockiert worden. Doch ab jetzt versinkt das Land in einem kommunikativen Vakuum, das die nächsten fünf Tage anhalten wird. Nur sporadisch funktioniert das Internet. Weil viele Menschen auf, wenn auch nur lückenhaft funktionierende, VPN-Dienste und Proxy-Server zurückgreifen, gelangen in den kommenden Tagen dennoch Informationen ins Ausland. Darunter sind über Kanäle wie Telegram oder Instagram geteilte Videos, die einen Eindruck vom Chaos vor Ort geben. Auch innerhalb Kasachstans ist der Informationsaustausch kaum möglich. Das staatliche Fernsehen berichtet zwar über die Unruhen, doch unabhängige Quellen sind versperrt. Die Menschen können kaum einordnen, was um sie herum passiert. Aber „man konnte innerhalb Kasachstans noch per Telefon und SMS Kontakt halten“, so Dippl, „wenn auch nicht ganz zuverlässig“.
Am 6. Januar nachmittags kehrt er nochmals zum Platz der Republik zurück und dokumentiert die massiven Zerstörungen. „Es waren nur wenige Menschen auf der Straße, die eher wie ich nachzuschauen schienen, wie es da aussieht. Sicherheitskräfte waren zu diesem Zeitpunkt nicht zu sehen“, sagt er, „die Stadt schien komplett sich selbst überlassen worden zu sein.“
Tödliche Schüsse auf Demonstranten
Doch laut HRW hatten Polizei und Armee sowohl am Vormittag desselben Tages als auch abends auf Demonstranten am Platz der Republik geschossen. Bei beiden Vorfällen starben Menschen durch Schüsse. Am Abend hatten sich rund um das Unabhängigkeitsdenkmal mehrere Dutzend Menschen versammelt, die ein Plakat mit der Aufschrift entrollten „Wir sind ganz normale Menschen, wir sind keine Terroristen“. Sicherheitskräfte, die auf gepanzerten Fahrzeugen angefahren kamen, eröffneten ohne Vorwarnung das Feuer auf die Menge.
Das Plakat war eine unmittelbare Reaktion auf eine Äußerung Präsident Tokayevs, der am Morgen des 6. Januar auf der Sitzung des Sicherheitsrates erstmals erwähnt hatte, „terroristische und kriminelle Elemente“ hätten versucht, das Land zu destabilisieren.
Offener Bruch mit Nasarbajew
Als Reaktion auf die landesweiten Proteste hatte Präsident Tokayev bereits in der Nacht vom 4. auf den 5. Januar den Ausnahmezustand verhängt und am Morgen des 5. Januar die Regierung entlassen. Unmittelbar danach unternahm er zwei ungewöhnliche Schritte, die, im Nachhinein betrachtet, die Dynamik der Ereignisse maßgeblich mitbestimmt haben könnten. Tokayev entließ den langjährigen Chef des Komitees für nationale Sicherheit KNB, Karim Massimov. Und er übernahm selbst den Vorsitz des nationalen Sicherheitsrates, den bis dahin der 81-jährige Ex-Präsident Nursultan Nasarbajew innegehabt hatte.
Damit stellte sich Tokayev offen gegen seinen Vorgänger – etwas, was er bis dahin nicht gewagt hatte. Denn Nasarbajew war trotz seines Rücktritts im März 2019 und Tokayevs Wahl zum Präsidenten im Juni desselben Jahres bis zu den Ereignissen im Januar der mächtigste politische Strippenzieher in Kasachstan.
Der Patriarch im Hintergrund
Die Konstellation zwischen Tokayev und Nasarbajew, einem der langlebigsten Diktatoren in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, ist für den Verlauf und Ausgang der Ereignisse im Januar entscheidend.
Nasarbajew hatte Kasachstan noch als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Kasachischen Sowjetrepublik in die Unabhängigkeit geführt und war seit 1990 Präsident gewesen. Elbasy, so sein offizieller Titel als „Führer der Nation“, hat Kasachstan geprägt, wie sonst niemand. Er öffnete das rohstoffreiche Land in den Neunzigerjahren für internationale Investoren, ermöglichte in den 2000er-Jahren das Entstehen einer wohlhabenden Mittelschicht, prägte den außenpolitischen Multivektor-Ansatz, durch den Kasachstan, fein ausbalanciert, ein gutes Verhältnis zu allen Großmächten pflegte, egal ob mit Russland, China, dieen USA oder Europader Europäischen Union.
Nasarbajew änderte mehrfach die Verfassung, um im Amt zu bleiben zu können – und hätte die wiederholt durch die OSZE kritisierten Wahlmanipulationen Jahre lang nicht nötig gehabt. Denn große Teile der Bevölkerung konnten sich einen anderen Präsidenten gar nicht vorstellen, er galt über lange Zeit als populär. Politische Stabilität war dabei das größte Argument Nasarbajews, mit dem er seinen autoritären Führungsstil rechtfertigte, und das lange Zeit erfolgreich.
Das System Nasarbajew
Doch ein immer stärker werdender Personenkult, Korruption und Vetternwirtschaft, durch die der alternde Diktator, seine Familie und eine kleine Clique enger Anhänger milliardenschweren Reichtum anhäuften, untergruben Nasarbajews Autorität.
Allein Nasarbajews Vermögen in Kasachstan, das dort unter dem Dach gemeinnütziger Stiftungen verwaltet wird und zu dem Luxushotels, TV-Sender, Banken, Industriebetriebe, Shopping-Malls, Großmärkte und andere Besitztümer gehören, umfasst mindestens acht Milliarden US-Dollar, wie eine Recherche von Organized Crime & Corruption Reporting Project (OCCRP) und weiteren Medienpartnern kürzlich aufdeckte. Auch Nasarbajews drei Töchter und deren Ehemänner, Nasarbajews Enkel, Neffen und deren Angehörige besitzen große Unternehmen, besetzen Posten in Aufsichtsräten, nennen Hunderte Millionen Euro teure Luxus-Immobilien in Europa und den USA ihr Eigen. Bolot Nasarbajew, der jüngere Bruder des Ex-Präsidenten, soll Im- und Exporte an der chinesischen Grenze kontrolliert haben, auch das ein Milliardengeschäft.
einheitliche Opposition, die eine Alternative zum jetzigen Regime wäre. Die im Parlament vertretenen Parteien – und andere offiziell registrierte gibt es in Kasachstan nicht – spielen, bis auf die Präsidentenpartei “Amanat”, politisch keine große Rolle. Bis März 2022 hieß sie noch “Nur Otan”. Journalisten, andere Regimekritiker und Menschenrechtler sehen sich seit Jahren durch lange Haftstrafen bedroht, wenn sie die autoritären Strukturen des Landes hinterfragen.
Proteste gegen Nasarbajews Regime oder einzelne politische Entscheidungen hatte es in Kasachstan immer wieder gegeben. Insofern war das Aufbegehren im Januar anfangs nichts Ungewöhnliches. 2006 widersetzten sich in Almaty rund 2.000 Menschen dem Verbot nicht genehmigter Demonstrationen und protestierten gegen die Ermordung des damals 43-jährigen Oppositionsführers Altynbek Sarsenbayev. Im Dezember 2011 gingen in Zhanaozen – wo auch die Proteste im Januar dieses Jahres begonnen hatten – Ölarbeiter auf die Straße und forderten höhere Löhne, Gefahrenzulagen und bessere Arbeitsbedingungen. Die Polizei eröffnete das Feuer und tötete 14 Demonstranten.
Der zehnjährige Jahrestag des so genannten „Massakers von Zhanozen“ im vergangenen Dezember gilt als einer der Hintergründe für die Protestbereitschaft im Westen Kasachstans. 2016 protestierten landesweit mehrere Tausend Menschen gegen eine geplante Änderung des kasachischen Bodengesetzes. Das sollte es Ausländern erlauben, kasachisches Agrarland für 25 Jahre zu pachten. Aufgrund der Demonstrationen wurde die Änderung ausgesetzt.
Ein Rücktritt, der keiner ist
Anfang 2019 hatten die anhaltende Entwertung des kasachischen Tenge gegenüber ausländischen Devisen und eine stagnierenden Wirtschaft die Unzufriedenheit der Bevölkerung verstärkt. Es kam zu Protesten gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit und für die eine bessere Versorgung sozial schwacher Familien. Im Februar begegnete Nasarbajew den Forderungen zunächst mit der Entlassung der damaligen Regierung. Doch das reichte nicht, um die aufgebrachte Bevölkerung ruhigzustellen. Im März trat der damals 78-jährige Präsident zurück. Der Rücktritt Nasarbajews, der sich stets als glänzender Taktiker erwiesen hatte, sollte weiteren Protesten entgegenwirken.
Nasarbajew macht den damaligen Senatssprecher Kassym-Jomart Tokayev zu seinem Nachfolger, zunächst als Interimspräsident. Zwei Tage nach Nasarbajews Rücktritt wird die Hauptstadt Astana auf Initiative von präsidentennahen Kreisen in “Nur-Sultan” umbenannt, zu Ehren des „Ersten Präsidenten Kasachstans“. Proteste dagegen bleiben ungehört, halten aber an. Forderungen nach politischen Reformen werden laut. Viele Menschen hoffen, dass der Machtwechsel auch einen Regimewechsel mit sich bringt. Die Bewegung „Oyan Qazaqstan“, die von jungen, teils im Ausland ausgebildeten, urbanen Intellektuellen gegründet wird und mehrere Demonstrationen organisiert, hofft auf mehr Demokratisierung von innen heraus.
Am 9. Juni 2019 wird Tokayev in vorgezogenen Präsidentschaftswahlen offiziell gewählt. Laut Wahlbeobachtern der OSZE bot die Wahl „einen wichtigen Moment für mögliche politische Reformen, wurde aber durch eindeutige Verstöße gegen die Grundfreiheiten und durch Druck auf kritische Stimmen getrübt“. Passives Wahlrecht, Versammlungsrecht und das Recht auf freieder Meinungsäußerung seien eingeschränkt, eine ehrliche Auszählung nicht gewährleistet gewesen. Am Wahltag sei es in größeren Städten zu zahlreichen Festnahmen friedlicher Demonstranten gekommen.
Präsident ohne Beinfreiheit
Bei seiner ersten Rede zur Lage der Nation als Präsident, im September 2019, umreißt Tokayev erstmals sein Konzept vom „zuhörenden Staat“, der „schnell und effizient auf alle konstruktiven Bürgeranfragen reagiert“. Er spricht sich dabei für „einen ständigen Dialog zwischen der Regierung und der Gesellschaft“ aus, zudem wolle er die Zivilgesellschaft erhalten und stärken und, sie in die Diskussion über die dringendsten nationalen Aufgaben einbeziehen, um sie zu lösen. Anders als Nasarbajew will er also im Kontakt bleiben mit der Zivilgesellschaft und Bürgerbelange bei politischen Entscheidungen berücksichtigen.
Doch die Bilanz Tokayevs seit 2019 ist bescheiden. Regimekritiker kommen weiterhin in Haft, Demonstrationen werden nur willkürlich genehmigt, Medien abgewickelt, wenn sie über korrupte Geschäfte der Familie von Ex-Präsident Nasarbajew berichten. Denn der hatte seinen Nachfolger Tokayev schon vor dessen Amtsübernahme lediglich als Statthalter vorgesehen, ein Instrument, um sich und seine Familie weiterhin an den Schalthebeln der Macht und der Quelle für persönlichen, finanziellen Wohlstand zu halten.
Die Konstellation funktionierte – bis Anfang Januar 2022. Als am 5.1. Tokayev Nasarbajew als Vorsitzenden des Sicherheitsrates absetzt – oder Nasarbajew nach Absprache mit Tokayev selbst zurücktritt, Details dazu werden nicht bekannt. Damit wird den Bürgern Kasachstans klar: Das hier hat eine neue Qualität. Offenbar ist ein Machtkampf zwischen dem alten ehemaligen und dem aktuellen Präsidenten im Gange. Denn eigentlich hatte sich Nasarbajew den Posten bei seinem Rücktritt lebenslang gesichert, auch um Kontrolle über die Sicherheitsbehörden zu behalten. Doch nun verliert auch der langjährige Vertraute Nasarbajews, Karim Massimov, seinen Job als Geheimdienstchef.
Ein verborgener Machtkampf
„In Teilen waren die Unruhen wohl durch diesen Machtkampf motiviert“, so Christoph Mohr von der FES, der organisiert auf die Straße geschickte aggressive Kräfte als dritte Gruppe der Akteure ausmacht. „Da waren vermutlich Vertreter der organisierten Kriminalität beteiligt, auch unzufriedene Männer, die möglicherweise instrumentalisiert wurden.“ Als Auftraggeber und Organisator dieser Gruppe werden in Kasachstan derzeit Teile der Sicherheitsbehörden, des KNB, vermutet, die traditionell hinter Nasarbajew standen und Tokayev ihre Loyalität verweigerten.
„Beobachter in Kasachstan“, so Marlies Linke von der RLS, „setzen das Auftreten dieser bewaffneten und offenbar vorbereiteten Akteure, nicht in Verbindung mit den sozialen und ökonomischen Forderungen der ursprünglich friedlichen Proteste. Sie werten das eher als Versuch, die Tokayev-Regierung zu destabilisieren und zu stürzen.“ Diese Gruppen seien wahrscheinlich sowohl von inneren als auch von äußeren Kräften getragen worden. „Ich warne aber davor zu sagen, dass das in erster Linie äußere Kräfte gewesen seien. Denn es gibt genügend Gründe für Protest im Land selbst. Ungelöste Probleme in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen bereiten den Boden für Unzufriedenheit.“
Die Rolle Russlands und der OVKS
Als in der Nacht vom 5. auf den 6. Januar in Almaty Akimat und Präsidentenresidenz brennen, und weitere strategisch wichtige Objekte von gewalttätigen Kräften offenbar gezielt angegriffen und überrannt werden, darunter der internationale Flughafen, Armeekasernen, Polizeidienststellen, Gebäude der Staatsanwaltschaft und der Präsidentenpartei „Nur Otan“ (seit März 2022 “Amanat”), und als ein wütender Mob durch die Straßen zieht, der Geschäfte und Supermärkte plündert und zerstört, ruft Präsident Tokayev die „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS) zu Hilfe, um Kasachstan bei der „Bewältigung dieser terroristischen Bedrohung zu unterstützen“.
Zu dem 1992 gegründeten Militärbündnis gehören neben Kasachstan und Russland auch Belarus, Armenien, Kirgistan und Tadschikistan. Tokayev begründet das Ersuchen mit einer „terroristischen Bedrohung“, bezeichnet die Unruhen als einen Akt der Aggression von außen, erklärt „dass diese Terrorbanden im Wesentlichen international sind und eine fundierte Ausbildung im Ausland erhalten haben“, Kasachstan also einen Angriff erlebe.
Noch in der Nacht vom 6. auf den 7. Januar landen erste, von allen Beteiligten als „Friedenstruppen“ bezeichnete Streitkräfte aus Russland in Almaty, unter den 2.500 Elitesoldaten vor allem russische Fallschirmjäger. Russlands Präsident Putin bezeichnet den Einsatz als notwendig gegen angebliche “Terroristen”. Er äußert, Russland werde keine “Revolutionen” in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zulassen. Der Flughafen wird zurückerobert. Truppen aller anderen Mitgliedsstaaten folgen im Verlauf von zwei Tagen.
Bereits am Morgen des 6. Januar war die Bevölkerung in Kasachstan durch die Behörden per SMS aufgefordert worden, ihre Wohnungen nicht zu verlassen, weil eine „Antiterror-Operation“ im Gange sei. Nachdem die OVKS-Truppen in der Stadt sind, erfolgen mehrfach weitere Warnungen an die Bevölkerung.
Das Ruder wieder in der Hand
Präsident Tokayev ruft am 7. Januar um 7 Uhr morgens einen Antiterror-Stab ein, zu dem die Führung seiner Präsidialverwaltung, Sicherheitsrat und Sicherheitsbehörden gehören, um das weitere Vorgehen zu planen. Kurz danach wendet er sich nochmals in einer TV-Ansprache an die Bevölkerung und spricht von „20.000 Banditen“, die alleine Almaty überfallen und ein terroristisches Ansinnen gehabt hätten. Und er erklärt: „Die Strafverfolgungsbehörden und die Armee haben auf meinen Befehl hin das Feuer ohne Vorwarnung zu eröffnen.“ Aufrufe aus dem Ausland, zu verhandeln, um und eine friedliche Lösung zu finden, tut er als „Quatsch“ ab: „Wie kann man mit Kriminellen und Mördern verhandeln?“
Sowohl in Kasachstan als auch im Westen stößt Tokayevs Erklärung, die Ausschreitungen seien von Terroristen verursacht worden, auf Misstrauen und Empörung. „Tatsächlich musste Tokayev wohl die Erzählung von im Ausland ausgebildeten Terroristen heranziehen, um das Eingreifen der OVKS-Truppen politisch zu rechtfertigen“, sagt Christoph Mohr von der FES, denn der Bündnisfall der OVKS sehe nur äußere Bedrohungen vor. „Von dieser alleinigen Erklärung der Ereignisse weicht man in Kasachstan mittlerweile aber schon etwas ab“, so Mohr. „Und schließlich muss man der kasachischen Regierung zugestehen, dass dies eine beispiellose Situation war.“
Mit dem Eingreifen der OVKS kann Tokayev die massiven Ausschreitungen beenden. Doch im Zuge der so genannten Antiterror-Operation kommen in den folgenden Tagen in ganz Kasachstan offenbar noch Dutzende Menschen ums Leben, darunter unbeteiligte Passanten und Kinder. Ab dem 7. Januar ziehen bewaffnete Sicherheitskommandos durch die Städte, erschießen scheinbar wahllos Menschen, wie zahllose Berichte von Angehörigen nahelegen. Tausende Menschen werden verhaftet, Verwundete aus Krankenhäusern heraus direkt in Gewahrsam genommen. Jeder scheint in diesem Tagen verdächtig.
Nasarbajew ist raus
Am 8. Januar wird der drei Tage zuvor als Chef des Komitees für nationale Sicherheit entlassene und als Nasarbajew-Alliierter bekannte Karim Massimov verhaftet, ihm droht eine Anklage wegen Hochverrats. Am 11. Januar stellt Tokayev eine neue Regierung ein – die zur Hälfte aus den Ministern besteht, die er in der Woche zuvor entlassen hatte. In den folgenden Tagen und Wochen entledigt sich Tokayev nach und nach weiterer, dem Ex-Präsidenten nahestehender Kader. Die drei Schwiegersöhne Nasarbajews verlieren ihre hochdotierten Jobs, Dimash Dosanov und Kairat Sharipbayev als Vorstandsvorsitzende der Staatskonzerne KazTransOil und KazakhGaz, sowie Timur Kulibayev als Präsident der mächtigen Unternehmerkammer Atameken, ebenso Nasarbajews Neffe Samat Abish, Vize-Chef des KNB, der am 17. Januar entlassen wird. Am 18. Januar tritt Ex-Präsident Nursultan Nasarbajew, der während der Ausschreitungen abgetaucht war, erstmals wieder in Erscheinung. In einer aufgezeichneten TV-Ansprache erklärt der einst mächtigste Mann des Landes, dass er sich in Kasachstan befinde, aber „nur noch ein einfacher Rentner“ sei, der seine wohlverdiente Ruhe genieße. Wann und wo die Ansprache tatsächlich aufgezeichnet wurde, ist nicht zu verifizieren.
Egal, ob Nasarbajews Auftritt dem Eingeständnis einer Niederlage oder der Bekanntgabe einer gütlichen Einigung zwischen dem aktuellen Präsidenten und der Nasarbajew-Familie gleichkommt, in jedem Fall scheint Tokayev den Machtkampf für sich entschieden zu haben. Die Ära Nasarbajew, die Kasachstan mehr als 30 Jahre lange prägte und 2019 mit dem Rücktritt des Ex-Präsident nur scheinbar vorüber war, scheint nun tatsächlich beendet. Doch wie geht es nun weiter in Kasachstan?
Auf Tokayev ruhen große Erwartungen. Diese zu erfüllen, wird die größte Herausforderung des kasachischen Präsidenten in seiner bisher fast dreijährigen Amtszeit sein: Menschen, die Angehörige verloren haben, fordern strafrechtliche Konsequenzen für die Schuldigen, die Bevölkerung hofft auf soziale Gerechtigkeit und die Erfüllung der politischen Forderungen, die durch die Proteste artikuliert worden waren, internationale Wirtschaftspartner erwarten langfristig Sicherheit für ihre Investitionen.
Tokayev ist sich seines Dilemmas ganz offenbar bewusst. Er hat ein ambitioniertes Programm für wirtschaftliche Reformen angekündigt und will Oligarchen verpflichten, sich an der Finanzierung von Sozialprogrammen zu beteiligen. Er hat der Korruption – erneut – den Kampf angesagt und räumt die Notwendigkeit ein, der ungleichen Verteilung von Vermögen im Land entgegenzuwirken. Damit berührt er einige der langjährigen Ursachen, die zu den Unruhen im Januar geführt haben. Doch die Gesellschaft in Kasachstan bleibt misstrauisch – ist Tokayev tatsächlich gewillt, den politischen Wendepunkt einzuläuten, auf den viele gehofft hatten?
Transparente Aufarbeitung ist nötig
Christoph Mohr von der FES zufolge wird Tokayev sich daran messen lassen müssen, wie transparent die Ereignisse im Januar aufgearbeitet werden. „Gewalt gegen friedliche Demonstranten – und die hat es offenbar gegeben – ist zu keinem Zeitpunkt akzeptabel. Kasachstan hat sich verpflichtet, internationale Konventionen einzuhalten, und daran sollte es sich halten.“ Es gebe zahlreiche Fälle von willkürlichen Verhaftungen und Folter imn Polizeigewahrsam im Zuge der Unruhen, denen bisher nur zögerlich nachgegangen werde. „Das hilft nicht, um den Dialog mit der Zivilgesellschaft zu intensivieren.“ Mohr sieht im Umgang damit Implikationen für die künftige Stabilität des Landes. „Der Druck in der Gesellschaft wird nicht weniger, wenn man jetzt nicht offen mit Fehlern, die seitens der Behörden gemacht wurden, umgeht.“
Als Reaktion auf die Ereignisse hat das Europäische Parlament am 20. Januar 2022 eine Resolution verabschiedet, mit der es die kasachische Regierung auffordert, ihren internationalen Verpflichtungen nachzukommen und die Menschenrechte zu wahren. Die Entschließung fordert zudem EU-Sanktionen gegen kasachische Funktionäre, die für die schweren Verstöße während der Januar-Proteste verantwortlich waren.
„Das ist keine objektive Entscheidung seitens des EU-Parlaments“, sagt dazu der kasachische Botschafter in Deutschland, Dauren Karipov. „So eine Entschließung sollte man nicht so eilig annehmen, sondern erst einmal abwarten. Es wurde eine spezielle Ermittlungsgruppe gegründet, und deren Ergebnisse erwarten wir nun.“ Sobald diese vorlägen, würden sie der Weltgemeinschaft vorgestellt. „Danach“, so Karipov, „kann das EU-Parlament reagieren.“
Deutschlands Beziehungen zu Kasachstan
Er hofft dabei auch auf Unterstützung durch die Bundesrepublik Deutschland. Denn „für Kasachstan ist Deutschland nicht nur größter Importpartner der EU, sondern auch einer der wichtigsten politischen Partner in Europa“, so der Botschafter. Kasachstan und Deutschland begingen am 11. Februar 2022 das 30-jährige Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, die Staatsoberhäupter beider Länder haben sich mehrfach gegenseitig besucht, zuletzt war Präsident Tokayev im Dezember 2019 in Berlin.
„Die Regierung von Kasachstan hat zudem besondere Bedingungen für die deutsche Wirtschaft geschaffen, darunter Steuererleichterungen oder eigene Kommunikationsplattformen, wie die deutsch-kasachische Regierungsarbeitsgruppe für Wirtschaft und Handel, die Sonderregierungsarbeitsgruppe für die Zusammenarbeit mit deutschen Investoren unter dem Vorsitz des kasachischen Vize-Premiers Roman Sklyar und den Berliner Eurasischen Klub“, betont Karipov.
„Auch für Deutschland war Kasachstan nach der Unabhängigkeit relativ schnell der Partner der Wahl in Zentralasien“, so Hovsep Voskanyan, Leiter der Delegation der deutschen Wirtschaft für Zentralasien, der deutschen Auslandshandelskammer, die ihren Sitz in Almaty hat. „Rund 300 bis 350 deutsche Unternehmen sind wirtschaftlich in Kasachstan aktiv, meist, um das Land als Absatzmarkt abzudecken.“ Insgesamt habe Deutschland mit mehr als einer Milliarde Euro in Kasachstan investiert, „beteiligt sind etwa 25 große deutsche Unternehmen wie Linde, Henkel oder Knauf“, so Voskanyan.
Deutsche Wirtschaft hofft auf Reformen
Bisher sei ihm nicht bekannt, dass deutsche Unternehmen sich aufgrund der jüngsten politischen Entwicklung aus Kasachstan zurückziehen wollten. „In der Bewertung der hiesigen Vertreter der deutschen Wirtschaft war das ein Putschversuch, der erfolgreich niedergeschlagen wurde“, so Voskanyan. Die meisten Unternehmen wollten jetzt erst einmal abwarten, wie die Tokayev und die Regierung vorgehen wollen. Die angekündigten Reformen, der Kampf gegen Korruption und mehr Transparenz würden begrüßt. „Tatsächlich rechnen einige Unternehmen jetzt sogar damit, dass das wirtschaftliche Geschehen durchaus dynamischer werden wird.“
Etwas verhaltener beurteilt das Torsten Thieme, CEO des Beratungsunternehmens ThiemeBieg & Associates, der seit mehreren Jahren auf dem kasachischen Mart tätig ist. „Ja, es könnte sein, dass das Geschäftsklima sich so verändert, dass internationale Investoren sich sicherer fühlen, dass vor allem die Rechtssicherheit größer wird.“ Thieme fürchtet aber auch, dass es nur bei der Ankündigung von Reformen bleibt. „Bisher klingen die Pläne Tokayevs vielversprechend, aber möglicherweise werden auch schlicht und einfach nur Köpfe ausgetauscht.“ Man müsse die Phase der aktiven Umsetzung abwarten. „Institutionen und Unternehmen sind immer abhängig von politischen Entscheidungen, und in die muss man Vertrauen haben können.“
Grundsätzlich hofft Thieme, dass Tokayev wie auch bisher die Multivektorpolitik Kasachstans weiterführen werde. „Je mehr sich Kasachstan an Russland andockt, desto mehr würden Sanktionen gegen Russland sich auch auf Kasachstan auswirken“, so Thieme zur Prognose, Russland könnte nach der Intervention der OVKS von Kasachstan politische Zugeständnisse fordern. „Schon bei den bisherigen Sanktionen gegen Russland haben Geschäfte in Kasachstan, oft indirekt durch beteiligte dritte Unternehmen, Schaden genommen. Daran kann Kasachstan kein Interesse haben.“
Mit Russland auf Augenhöhe?
Christoph Mohr von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kasachstan weist darauf hin, dass Kasachstans Umgang mit Russland zum einen von innen-, zum anderen von geopolitischen Erwägungen bestimmt werde. „Die OVKS-Truppen sind in erster Linie dafür hierhergekommen, die Infrastruktur zu schützen, das“, so Mohr, „haben sie erfüllt. Jetzt sind die Truppen aller Mitgliedsländer auch wieder abgezogen.“ Tokayev, der wie sein Vorgänger Nasarbajew, stets die Unabhängigkeit gegen Russland zu wahren suchte, werde diese Strategie weiter verfolgen. „Das erwartet auch die eigene Bevölkerung von ihm.“
In Kasachstan selbst sind bereits Befürchtungen laut geworden, das Land begäbe sich in politische Abhängigkeit von Russland. „Es gibt eine Diskussion darüber“, so Marlies Linke von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, „ob es ein kluger Schritt Tokayevs war, ausländische Truppen ins Land zu holen. Die Frage ist allerdings, ob es für ihn überhaupt eine Alternative gegeben hätte, denn offenbar war sich Tokayev der Loyalität der kasachischen Truppen nicht mehr sicher.“
„Es ist außerdem stark vereinfacht zu glauben, in Moskau werde entschieden, welche Politik in Nur-Sultan gemacht wird“, so Mohr von der FES. „Ich schreibe dem kasachischen Staat eine hohe Eigenständigkeit zu – mit eigener Motivation und eigener Wahrnehmung, mehr als das vielleicht beispielsweise in Belarus der Fall ist.“ Zudem spiele China als mächtiger Wirtschaftspartner eine ebenso große Rolle bei den Abwägungen Kasachstans. Der östliche Nachbar ist wichtigster Export- und nach Russland zweitwichtigster Importpartner Kasachstans. Auch China hatte während der Unruhen seine Bereitschaft zur Intervention signalisiert. Die fernöstliche Großmacht, so Mohr, habe einen sehr pragmatischen Ansatz und sei vor allem an Stabilität in Kasachstan interessiert.
Reformen von innen heraus
Eines scheint klar: Auf Kasachstan und insbesondere auf Präsident Kassym-Jomart Tokayev kommt eine schwierige Zeit zu. Er sei kein Revolutionär, sagte der Präsident in seinem ersten Interview, das er nach den Ereignissen im Januar dem staatlichen TV-Sender Khabar24 gab, er setze auf einen durch ihn moderierten gesellschaftlichen Wandel in Kasachstan. „Ich sehe meine Mission als Präsident darin, positive Ergebnisse bei der Transformation der gesamten Gesellschaft und des politischen Systems zu erreichen, und abschließend natürlich des Wirtschaftssystems.“
Er erwäge die Änderung des parlamentarischen Systems, wolle mehr Pluralismus im Parteiensystem Kasachstans und dem Unterhaus des Parlaments zulassen. „Im Mazhilis muss es mehrere starke Parteien geben, die zum Konsens kommen und eine gemeinsame Sprache finden müssen, um eine Regierung zu bilden.“ Insbesondere den deutschen Parlamentarismus bezeichnet Tokayev als Beispiel Vorbild für Kasachstan: „Dort läuft alles zivilisiert ab, die Parteien wechseln, die Leute treten ruhig auf, andere Parteien hören ihnen zu, sie kommen zu Vereinbarungen, empfehlen ihre Leute für Schlüsselstellen der Regierung und so weiter. Und ich denke, mit der Zeit kommen wir auch dorthin.“ Mit der Zeit ist allerdings ein dehnbarer Begriff.
Tokayev als neuer starker Mann?
Bisher ist die Präsidentenpartei „Amanat“ stärkste politische Kraft in Kasachstan. Ende Januar ließ sich Tokayev zu ihrem Vorsitzenden wählen und besetzt damit eines der wichtigsten politischen Machtzentren des Landes, wie es auch schon sein Vorgänger Nasarbajew getan hatte.
Noch distanziert sich Tokayev von jeglichem Personenkult. „Ich weiß nicht, wie lange ich Präsident Kasachstans sein werde, aber ich weiß, dass es laut Verfassung nicht mehr als zwei Legislaturperioden sein werden“, versprach er in einem Interview und kündigte an: „Es wird keine Änderung der Gesetze und der Verfassung diesbezüglich geben.“
Tokayev galt schon unter Nasarbajew, dem er unter anderem als Außenminister, Premierminister und zuletzt als Senatssprecher diente, als stiller Diplomat und eher intellektuell – neben Kasachisch und Russisch spricht er auch fließend Mandarin und Englisch. Die Unruhen im Januar hat er dennoch als starker Mann beendet, unterstützt durch die OVKS.
Verhängnisvolle Unterstützung durch Russland?
Diese Unterstützung durch das von Russland geführte Militärbündnis könnte Kasachstan vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine jetzt zum Verhängnis werden. Putin wird dadurch Loyalität einfordern, ob militärisch oder politisch wird sich noch zeigen.
Präsident Tokayev bot sich als Vermittler in dem Konflikt an, stellte sich weder auf die eine noch die andere Seite der Kriegsparteien, möglich sei nur eine friedliche Lösung. „Wir fordern daher beide Staaten auf“, so Tokayev, „am Verhandlungstisch eine gemeinsame Basis zu finden, um eine Einigung und ein Einverständnis zu erzielen.“
Senatssprecher Maulen Ashimbayev dementierte zudem, dass Kasachstan Truppen zur Unterstützung Russlands in die Ukraine schicken werde. „Entsprechend der UN-Satzung kann Kasachstan Friedenstruppen nur mit einem Mandat der Vereinten Nationen außerhalb der Grenzen von OVKS-Mitgliedsländern einsetzen.“ Da die Ukraine der OVKS nicht angehöre sei dies also nicht möglich.
Ob Russland die neutrale Position Kasachstans reichen wird, ist unklar. Doch Tokayev muss der eigenen Bevölkerung auch die Integrität und Unabhängigkeit Kasachstans zusichern. Denn Befürchtungen, Kasachstan könnte eine ähnliche Intervention wie derzeit die Ukraine erfahren, sind für viele Kasachen durchaus real.
Davon, wie Tokayev sich gegenüber Russland positioniert, ob Kasachstans Bevölkerung ihm die Reformbemühungen tatsächlich abnimmt und, noch wichtiger, auf welcher Basis er sich die Loyalität der mächtigen Sicherheitsstrukturen sowie der Oligarchen des Landes wird sichern können, wird abhängen, wie stabil Kasachstan in den nächsten Monaten und Jahren bleiben wird. Und ob sich Tokayevs skizzierte Vision eines demokratischen Pluralismus nach deutschem Vorbild erfüllt.
Der Artikel wurde im Deutschland-Archiv der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht.