Kirgistan: Almauftrieb im Tien-Shan

von © Deutschlandfunk, Sonntagsspaziergang, 20.07.2008, 12 min

Wenn Yaks, Pferde, Kühe, Schafe und Ziegen auf die Bergweiden des Tien-Shan getrieben werden, dann siedelt die ganze Familie mit über. Der komplette Haushalt wird dann auf einem Lkw verstaut. Kommode, Geschirr und Kleidertruhen gehören ebenso zum Gepäck wie Solarbatterien, Dieselgenerator und die traditionellen Jurten aus Filz.

Viele Nomadenfamilien gibt es allerdings auch in Kirgistan nicht mehr, denn unter der Sowjetherrschaft wurden die meisten von ihnen sesshaft gemacht. Vor allem aber in den Bergen im Norden Kirgistans ist die saisonale Weidehaltung die einzige Form, die Natur zu erhalten.

Bachyt hält einen Strick in der Hand und bahnt sich vorsichtig seinen Weg durch eine Herde von Stuten und Fohlen. Die Pferde laufen panisch durcheinander – auf der einen Seite Bachyt, auf der anderen der Leithengst, ein kräftiger Schimmel. Der Hengst wirft den Kopf hin und her, die Zähne gebleckt, will die Stuten zusammen halten. Doch die werden von Bachyts Männern abgedrängt. – Bachyt will den Hengst. Er soll von den Stuten getrennt werden.

Denn morgen früh brechen Bachyt und seine Familie auf ins Sommerlager. Bachyt ist Kirgise, und Nomade, mit einem Winter- und einem Sommerquartier. Die Vorbereitungen für den diesjährigen Umzug laufen auf Hochtouren. Und dazu gehört es auch, die Hengste von den Stuten zu trennen

Mit seinen roten Stoppel-Haaren und den ausgewaschenen Jeans sieht Bachyt nicht unbedingt aus wie ein Nachfahre von Dschinghis Khan. Doch hier im Kral vor dem Pferdestall zeigt sich – wie der Mongolenführer es war, ist auch Bachyt ein Pferdemensch, nahezu angstfrei inmitten nervös stampfender Pferdehufe.

Gemeinsam mit seinen Männern hat Bachyt den Schimmelhengst in eine Ecke bugsiert. Doch schon bricht der Hengst wieder aus. Den Männern bleibt nur ein Sprung zur Seite – mit einem wild gewordenen Hengst legen sich auch Kirgisen nicht gerne an, obwohl die meisten von ihnen schon auf einem Pferd saßen, bevor sie laufen konnten.

Schließlich jedoch muss der Schimmelhengst sich fügen: Bachyt gelingt es, ihm einen Strick um den Hals zu werfen. Dann streift er ihm ein Halfter über. – Der Kampf ist entschieden. Morgen früh, wenn der Nomaden-Treck aufbricht, wird ein Hirte den Schimmel reiten. Mit den Leithengsten hinter sich, laufen die Stuten dann fast von allein.

Der Lärm hallt noch eine Weile nach zwischen den Bergen, die kahl sind, ohne einen Baum, aber von sattem Grün bedeckt. Ein kleiner Bach schlängelt sich durch die Weiden. Und unten, ein Stück den Hang hinab, steht Bachyts Haus.

Während die Männer noch die Stuten zählen, hat Bachyt ein Problem bei den Kühen entdeckt. Die Hirten dort haben die Kühe bereits ins Tal hinunter getrieben, aber vergessen, wie viele Kälber dabei waren.

Bachyt weist die Männer an, die Kühe noch einmal zurückzuholen und auch die Kälber zu zählen. – Morgen früh ist dafür keine Zeit mehr. Schon im Morgengrauen werden die kirgisischen Cowboys aufbrechen und Schafe, Ziegen, Rinder, Yaks und Pferde in Richtung Sommerweide treiben – insgesamt über 600 Tiere.

Bachyt ist einer der letzten Nomaden Kirgistans. Den Winter verbringt er in der Nähe seines Heimatdorfes Schabdan. Das liegt im breiten Tal des Chon-Kemin-Flusses, der sich von Ost nach West durch die Bergketten des Zailiskij Alatau windet, dem nördlichsten Rand des Tien-Shan, an der Grenze zwischen Kasachstan und Kirgistan.

Doch jedes Jahr im Frühsommer zieht Bachyt mit seiner Familie und den Tieren auf die Sommerweide, den Jailoo, wie die Kirgisen sagen. Der liegt 100 Kilometer von Schabdan entfernt, immer flussaufwärts.

Hier, rund um das Winterquartier sind die Weiden nach dem Winter abgefressen. Doch auf dem Jailoo, wo noch vor kurzem Schnee lag, blüht und grünt es jetzt. Dort findet das Vieh jetzt genug Futter, um sich eine Speckschicht für den Winter anzufressen. Weil es dort mehr Platz und mehr Futter gibt, nimmt Bachyt den dreitägigen Umzug auf sich.

Bachyts Vorfahren packten all ihre Habe noch auf Pferde, selbst die Jurten, die runden Filzzelte der Nomaden Zentralasiens, mit ihren langen Holzgestängen und dem hölzernen Rauchabzug, dem Tündük.

Bachyt hat es da heute leichter. Fast der gesamte Haushalt – Kommode, Geschirr, Bettdecken und Kleidertruhen inklusive – landet gemeinsam mit den Jurten auf einem alten russischen Militärlaster.

[inspic=368,,fullscreen,284]Am nächsten Tag bricht der Treck wie geplant früh am Morgen auf. Die Vorhut bilden Schafe und Ziegen – sie sind am langsamten.

Immer wieder müssen die Tiere gezählt werden. Denn nicht alle sind Eigentum von Bachyts Familie. Etwa ein Drittel der Tiere bringt der Kirgise für andere Dorfbewohner auf die Sommerweide und verdient sich so etwas Geld dazu.

Bachyt und seine Brüder leben von der Weidehaltung, die Arbeit haben sie untereinander aufgeteilt. Zwei Brüder kümmern sich zu Hause um die Weiden rund um das Winterquartier, machen Heu, bauen Getreide an. Bachyt ist zuständig für das Vieh.

Erst seit einigen Jahren besinnen sich die Kirgisen wieder auf das Nomadentum. Den Winter verbringen sie in ihren Heimatdörfern, das Vieh weidet ganz in der Nähe und kehrt abends in die Ställe zurück. – Doch im Sommer treibt es die Kirgisen heute wieder auf die hoch gelegenen Bergweiden – dahin, wo die Tiere sich rund fressen können für den Winter. Mehrere Monate verbringen die Familien so weit weg von den Heimatdörfern – fast wie ihre Vorfahren. Die waren das ganze Jahr auf Wanderschaft, zogen zwischen den Weidegründen hin und her, im Sommer in die Berge, im Winter wieder hinab ins Tal.

Als Kirgistan dem Sowjetreich angegliedert wurde, propagierten die Kommunisten Sesshaftigkeit. Aus den Nomaden wurden Dorfbewohner, aus Hirten Kolchos-Bauern.

Doch weil Kirgistan seit dem Ende der Sowjetunion in einer Wirtschaftskrise steckt, sehen die ehemaligen Kolchos-Bauern wieder eine Chance in den alten Traditionen. Auch Bachyt ist stolz auf das Erbe, das er wiederbelebt hat.

„Die Hirten hier arbeiten alle für jemand anderen. Das Vieh gehört Leuten aus der Stadt, Ministern, früheren Kolchos-Vorsitzenden oder irgendwelchen Direktoren. Ich mache das – wie schon mein Vater – für mich selbst. Von allen Hirten hier im Tal bin ich der Ärmste, und ich bin ich am längsten hier im Tal. Klar, ich habe auch Angestellte, aber ich arbeite für mich und habe alles mit eigener Kraft aufgebaut.”

Bachyt liebt dieses Tal zwischen den 6.000 Meter hohen Bergen des Alatau. Die Landschaft verändert sich, je weiter man dem Fluss folgt. Weit unten hat das Vieh, als die Sonne brannte, im Auenwald Zuflucht gefunden. Schon einen Tag später führt der Weg auf baumlosen, mit Geröll übersäten Talterrassen entlang. Hier hat sich der Chon-Kemin tief eingeschnitten, gespeist von Zuflüssen, die den Weidegründen ihre Namen geben.

„Wir stehen hier auf dem Jailoo Dschindi-Su, am Fluss Dschindi-Su – das heißt ‚böses Wasser’. Man kann den Fluss kaum überqueren, nicht zu Fuß, nicht zu Pferd, es gibt nur ein paar ganz wenige seichte Stellen. – Unser Jailoo heißt eigentlich Chon-Kemin, aber wir nennen ihn Kok-Oirok, grüne Schönheit. Da vorn laufen unsere Schafe, dahinter die Kühe, da wo die Brücke ist, werden wir übernachten. Und gebe es Gott, wenn alles gut geht, sind wir morgen Abend schon am Ziel, bauen die Jurten auf und schlachten ein Schaf – wie zu Hause.”

Tatsächlich hat der Tross am nächsten Abend sein Ziel erreicht. Jenseits der Baumgrenze auf 3.500 Metern Höhe, inmitten von Berghängen, die wie mit grünem Samt überzogen wirken. Doch das erste, was aufgebaut wird, sind nicht etwa die Jurten, sondern – der Dieselgenerator.

Die heutigen Nomaden kommen eben nicht ohne Strom aus. Dass der nun ausgerechnet für Fernseher und DVD-Rekorder verwendet wird, mag Gäste befremden. Allzu gern stellt man sich die Idylle der kirgisischen Nomaden als zivilisationsfremd vor. Doch Bachyt liebt Musik – sogar die aus Deutschland.

Zu westlichen Diskoklängen aus den 80ern bauen die Kirgisen schließlich die erste Jurte auf. Zuerst stehen die „Wände”, eine faltbares Holzgitter. Dann hält einer den Tündük, den Rauchabzug für das Dach, mit einer langen Holzstange in die Höhe. Die anderen fügen nun mehrere Dutzend „Dachsparren” ein, gebogene Holzlatten – das eine Ende wird in kleine Löcher am Tündük eingepasst, das andere am Holzgitter befestigt. Wenn das Gerippe der Jurte steht, wird es mit großen Filzbahnen umspannt.

Obwohl Jurten die praktischste Behausung für die Hirten sind, weil man sie schnell auf- und abbauen kann, wohnen viele in alten Bahnwaggons oder Containern. Talant, Bachyts Bruder, der beim Almauftrieb geholfen hat, erklärt, warum:

„Früher gab es viele Jurten, aber jetzt werden kaum noch welche hergestellt, und wenn, sind sie teuer – so um die 15.000 Dollar, wenn das so eine gute ist, wie die dort. Die Jungen wollen das Handwerk nicht mehr lernen. Aber eigentlich schläft man in einer Jurte am besten – nachts sieht man die Sterne am Himmel, und wenn man früh aufwacht, ist schon die Sonne zu sehen.”

Genau wie die Jurten gehört auch Kumys zum Hirtenleben im Tien Shan dazu – Kumys, das leicht alkoholische kirgisische National-Getränk aus vergorener Stutenmilch. Da die halbwilden Stuten aber niemanden freiwillig zum Melken an sich heranlassen, fangen Bachyt und seine Männer zunächst die Fohlen ein. Die sind noch ängstlicher als ihre Mütter – das allererste Mal in ihrem Leben, werden sie von wild herum schreienden Männern mit einem Lasso an einem langen Holzstecken überwältigt.

Am Ende der martialisch anmutenden Prozedur sind die Fohlen völlig erschöpft nebeneinander angebunden. Die Stuten stehen misstrauisch bei ihnen, aber verlassen würden sie ihre Fohlen auf keinen Fall.

„Sie gewöhnen sich daran und werden ruhiger – wir müssen sie ja melken, alle zwei Stunden. Da geben sie jeweils einen Liter.”

Für die Fohlen reicht die Milch trotzdem noch. Jede Nacht werden die jungen Pferde freigelassen – und am nächsten Morgen wieder eingefangen.

In der Jurte kann Bachyt nun den ersten frischen Kumys des Jahres ansetzen. Unterwegs hatte er sich von einem Nachbarn etwas fertigen Kumys in einer Plastikflasche mitgenommen. Der dient nun als Grundlage – denn wie bei Sauerteig bringen Hefekulturen dem Kumys zum Gären.

Der Kumys und die frische, leicht süßlich schmeckende Stutenmilch werden in einem ausgeräucherten Birkenfass vermischt und mit einem großen Quirl ständig in Bewegung gehalten. Auch hier hat der Fortschritt bei den Nomaden Einzug gehalten, denn ursprünglich nutzten die Kirgisen zur Kumys-Produktion einen Ziegenbalg. Im Geschmack – säuerlich, rauchig und mit viel Kohlensäure – unterscheide sich der Kumys aus dem Birkenfass aber nicht vom Original, versichert Bachyt.

„Jetzt ist noch kein Alkohol drin, aber in zwei, drei Stunden ist das richtiger Kumys.”

Nichts geht den Kirgisen über ein üppiges Dastarchan, ein Gastmahl in der Jurte. Die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Nomaden liegt wohl darin begründet, dass Fremde früher die einzige Möglichkeit waren, Informationen auszutauschen. Für Gäste ein Schaf zu schlachten, ist deshalb bei Kirgisen eine Selbstverständlichkeit.

Doch auch der dreitägige, glücklich beendete Almaufstieg ist ein Grund zum Feiern. Bevor Bachyt das Schaf schlachtet, findet sich die gesamte Familie ein. Die gläubigen Muslime bitten um den Segen Allahs, um Frieden, Gesundheit und Zusammenhalt in der Familie.

Obwohl an diesem Abend alle zu Tode erschöpft sind, gibt es noch spät in der Nacht ein Festmahl. Mit frischem Hammelfleisch, selbst gebackenem Brot und dem ersten eigenen Kumys.

Bilder vom Almauftrieb und Bachyts Familie finden Sie hier.