Die Terrororganisation „Islamischer Staat“ rekrutiert ihre Kämpfer verstärkt in den muslimisch geprägten Ex-Sowjetrepubliken Zentralasiens. Diese fragilen Staaten sind für den IS strategisch wichtig geworden.
Als am 18. Juli ein bewaffneter Einzeltäter unter dem Ruf „Allahu Akbar“ eine Polizeistation im kasachischen Almaty überfällt, verhängen die Sicherheitsbehörden die höchste Terrorwarnstufe. Vier Polizisten und zwei Zivilisten sterben. Der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew nennt den Überfall einen Terrorakt. Der 26-jährige Täter habe während einer vorangegangen Haft Ansichten des radikalen Islam übernommen, heißt es seitens des nationalen Sicherheitskomitees KNB.
In Europa wurde der Anschlag in Kasachstan nur am Rande registriert. Doch für Zentralasien – gemeint sind die fünf ehemaligen Sowjetrepubliken Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan – war dies ein weiteres Alarmsignal. Die gesamte Region, überwiegend muslimisch geprägt und auf rund 2.500 Kilometern an Afghanistan angrenzend, ist wirtschaftlich angeschlagen und politisch labil. Auch wenn bisher nicht klar erwiesen ist, dass es sich bei der Attacke in Almaty um einen islamistisch motivierten Angriff handelte: Bewegungen religiöser Extremisten stellen in Zentralasien ein zunehmendes Sicherheitsrisiko dar.
In Batken, im Südwesten Kirgistans, verhaftete der kirgisische Geheimdienst am 17. Juni drei Männer. Sie waren aus dem syrischen Bürgerkrieg zurückgekehrt und sollen zu einer Schläferzelle des IS gehören. Nach Angaben des Innenministeriums hatten sie eine Reihe von Anschlägen in Kirgistan geplant.
Islamischer Staat setzt auf Rückkehrer als Schläfer
Im Mai hatte sich Gulmurod Halimov, ein kurz zuvor nach Syrien desertierter hochrangiger Kommandeur der tadschikischen Spezialeinheit OMON, in einem Propaganda-Video zum IS bekannt. Im Video kündigte er an, nach Zentralasien zurückkehren und dort in den Dschihad ziehen zu wollen. Das Selbstmordattentat auf den Flughafen von Istanbul am 29. Juni wurde laut der türkischen Regierung von Tätern aus Russland, Usbekistan und Kirgistan begangen. Kirgistan und Usbekistan haben eine Verwicklung ihrer Staatsbürger bis heute nicht bestätigt.
Seit Jahren existieren in der Region islamistische Vereinigungen wie die „Islamische Bewegung Usbekistan“ (IBU), die schon auf Seiten der Taliban in Afghanistan kämpfte. Tausende Usbeken, Tadschiken oder Turkmenen sind in die Konflikte in Afghanistan verwickelt.
Mit dem brutalen und medial professionellen Auftreten des IS habe die Bereitschaft, im Namen der Religion in den „heiligen Krieg“ zu ziehen, in Zentralasien zugenommen, sagt der kasachische Politologe Dossym Satpayev: „Der IS ist zu einer attraktiven Marke geworden, der sich junge Leute anschließen wollen.“ Den Grund dafür sieht Satpayev in einem „ideologischen Vakuum“, das sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufgetan habe.
Tatsächlich sind die ehemaligen Sowjetrepubliken für den IS eine der wichtigsten Rekrutierungsregionen. Im Dezember 2015 schätzte der Think Tank „Soufan Group“, der Regierungen in Sicherheitsfragen berät, die Zahl der IS-Kämpfer aus der Ex-Sowjetunion auf rund 4.700. Etwa 2.000 davon stammen aus Zentralasien.
Eingeschränkte Religionsfreiheit
Seit der Unabhängigkeit der Ex-Sowjetrepubliken erlebt der Islam in Zentralasien einen Wiederaufstieg. Den noch immer säkular geprägten, autokratischen und korrupten Herrschern dient der Kampf gegen religiösen Extremismus jedoch oft als Vorwand, Regimegegner zu kriminalisieren und die Religions- und Meinungsfreiheit einzuschränken.
So hatte der tadschikische Präsident Emomali Rahmon im Herbst 2015 die „Islamische Partei der Wiedergeburt Tadschikistans“ – die einzige muslimische Partei in Zentralasien – verboten, weil sie angeblich einen Staatsstreich vorbereitete. Allerdings diente der Vorwurf einhelligen Expertenmeinungen zufolge lediglich als Vorwand, um die Opposition auszuschalten. Auch Kirgistan hat rund 20 islamische Gruppierungen als extremistische und terroristische Organisationen verboten.
Dass der IS in Syrien und Irak derzeit an Territorium verliert, könnte direkte Auswirkungen auf die Länder Zentralasiens haben. Viele der Kämpfer kehren jetzt in ihre Heimat zurück. Gerade mit diesen Rückkehrern verfolgt der IS die Strategie, Schläferzellen außerhalb seines Kerngebiets zu etablieren, diese bei Bedarf zu aktivieren und die Region langsam zu destabilisieren.
Brandgefährliches Gemenge
Zum Teil funktioniere das bereits, so Politologe Satpayev. Durch Einzeltaten wie die in Kasachstan würden Extremisten die Regierungen doppelt diskreditieren: „Weil deutlich wird, dass sie weder die Bürger des Landes noch sich selbst zu schützen vermögen.“ Eine Informationspolitik, die den Bürgern Fakten vorenthalte und offiziell falsche Schlüsse ziehe, tue dabei ihr Übriges.
Rund 70 Millionen Menschen leben in Zentralasien – zum Teil in bitterer Armut. Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan sind von Überweisungen zentralasiatischer Gastarbeiter in Russland abhängig. Im Jahr 2013 machten sie laut Weltbank zum Beispiel 52 Prozent des tadschikischen Bruttoinlandsprodukts aus. Seitdem Russland mit den Sanktionen zu kämpfen hat, sind die Überweisungen nach Zentralasien um nahezu die Hälfte gesunken.
Selbst das Wachstum im rohstoffreichen Kasachstan stagniert aufgrund des niedrigen Ölpreises. Zwei Abwertungen der kasachischen Währung seit 2014 haben die Nettoeinkünfte der Bevölkerung praktisch halbiert.
Die Folgen dieser Gemengelage aus Armut und Korruption, religiöser Bevormundung und autoritärer Regierungsführung seien brandgefährlich, sagt der kirgisische Politikwissenschaftler Uran Botobekov: „Der Kampf gegen religiöse und extremistische Organisationen ist aussichtslos, wenn es keine fundamentale Änderung der Innenpolitik gibt, die sozioökonomische Veränderungen und Reformen der Rechtsstaatlichkeit beinhaltet.“ Bei den Regierungen in Astana, Bischkek, Duschanbe, Aschgabat und Taschkent finden solche Einschätzungen bislang keinen Anklang.
Der Artikel ist am 27. Juli 2016 auf Ostpol erschienen.