Tilo hat sich kaum verändert: Die dunklen Haare, die tiefe Stimme, etwas grauer und kräftiger ist er geworden, aber seinen beißenden Sarkasmus hat er behalten. „Manchmal ist der Mund eben schneller als der Kopf“, wird er später sagen. Jetzt kommt er mir in Adiletten und kurzer Hose entgegen, im Hof einer dieser vierstöckigen Wohnblöcke aus den Siebzigern. „Schön, dass du da bist“,
sagt er und drückt mir herzlich die Hand. 32 Jahre ist es her, dass wir uns das letzte Mal gegenüberstanden.
Damals habe ich Bautzen verlassen. In der Pubertät vom Dorf hierher verpflanzt, war ich bis zum Ende der Schulzeit nie wirklich angekommen. Ich floh in die Welt. Den unsanften Abschied von meiner Kindheit habe ich Bautzen nie verziehen. Regelmäßig kehre ich zur Familie zurück, alle anderen Kontakte aber brach ich rigoros ab. Jetzt ist mein ehemaliger Klassenkamerad Tilo Schütze
mein wichtigster Ansprechpartner. Er ist hiergeblieben. Von allen, denen ich begegnen
werde, steht er am ehesten für das, was Bautzen ausmacht.
Seit 2015 gilt die 39 000-Einwohner-Stadt eine Stunde östlich von Dresden als Inbegriff für den „rechten Osten“, in den sozialen Netzwerken macht der Spitzname „Brown Under“ die Runde. Zahlreiche Vorkommnisse brachten Bautzen diesen Ruf ein. Im Februar 2016 wird das Hotel Husarenhof in Brand gesteckt. 300 Asylbewerber, die hier untergebracht werden sollten, kommen nicht, weil das Hotel unbewohnbar wird. Im September desselben Jahres prügeln sich in der Innenstadt Asylbewerber und Deutsche. Im Dezember 2016 dann ein weiterer Anschlag, diesmal auf das als Asylunterkunft dienende Spreehotel.