Als die kasachische Regierung im Mai 2015 verkündete, dass die Nationalbank nach Astana verlegt werden würde, war die nationale und internationale Geschäftswelt in Kasachstan in heller Aufregung. Bis dahin waren dahingehende Vorschläge von der Regierung kategorisch abgelehnt oder schlichtweg ignoriert worden. Almaty galt als DAS Dienstleistungs- und Finanzzentrum Kasachstans, hatten doch alle im Lande präsenten nationalen und internationalen Finanzdienstleister, Versicherungs- und Maklergesellschaften hier ihren Standort, inklusive der staatlichen Regulierungsbehörde.
Und nicht umsonst war im Jahr 2006 das Regionale Finanzzentrum der Stadt Almaty (RFCA) gegründet worden, mit dem Ziel, einen Finanz-Hub für die gesamte Region Zentralasien zu etablieren. Das RFCA schien die Garantie für Almaty, den Schwerpunkt Banken und Finanzen als Standortfaktor zu behalten – wenn schon alle Regierungsinstitutionen und staatlichen Unternehmen peu à peu nach Astana gezogen waren und sich viele internationale Organisationen gezwungenermaßen angeschlossen hatten.
Gegen die Aberkennung des vermeintlichen „Schutzstatus‘“ per offizieller Verordnung waren selbst schlüssige Gegenargumente zwecklos. Die Expo 2017 und deren wirtschaftliche Strahlkraft sollten einem neuen kasachischen Finanzzentrum in Astana den nötigen Entwicklungsimpuls geben. Wieder einmal wurde für die Hauptstadt Astana ein Stück vom Ansehen Almatys geopfert – so sahen es nicht wenige Experten und Wirtschaftsfachleute in Kasachstan.
Ein dreiviertel Jahr später nun, im Januar 2016 hat sich das Blatt wieder etwas gewendet – zugunsten von Almaty. Durch einen Präsidentenerlass wurde der Umzug der Nationalbank abgeblasen, ebenso der Umzug der Kasachischen Börse. Eine Begründung für diese Entscheidung wurde offiziell nicht mitgeteilt. Ursache dürften die massiven Probleme bei der Finanzierung des kasachischen Staatshaushalts sein, der durch den niedrigen Ölpreis und die Verluste des Tenge gegenüber dem Dollar nach der Kursfreigabe im August 2015 in extreme Schieflage gekommen ist.
Almaty ist also zunächst davongekommen. Für wie lange, weiß niemand, denn dass ein Umzug nur ausgesetzt und auf später verschoben wurde, ist wahrscheinlich. Denn weiterhin geplant ist das Internationale Finanzzentrum Astana, das bis zum Beginn der Expo 2017 einsatzbereit sein soll, auch wenn dessen Finanzierung in den nächsten beiden Jahren heruntergefahren wird.
Das Wettrennen der beiden Städte um die Anerkennung als attraktivster Wirtschaftsstandort Kasachstans bleibt so vorerst unentschieden – auf der einen Seite Astana, die mit viel Geld künstlich aufgepumpte Hauptstadt mit Nähe zur Staatsmacht, auf der anderen Almaty, die gewachsene Metropole, die für sich beansprucht, auch das intellektuelle und kulturelle Zentrum Kasachstans zu sein.
„Attraktiver Wirtschaftsstandort“ ist allerdings relativ, denn die Attraktivität und Relevanz schwanken je nach Sektor. Für einen Eindruck, wie beide Städte wirtschaftlich dastehen, sollen deshalb einige Bereiche genauer betrachtet werden.
Astana und Almaty, die zwei Hauptstädte Kasachstans
Seitdem Astana 1997 Hauptstadt wurde, hat Kasachstan zwei Kraftfelder: Astana die Hauptstadt, in der – bis auf den Finanzsektor – alle staatlichen Institutionen und Behörden sowie die Firmensitze der großen Staatsunternehmen angesiedelt sind; und Almaty, das frühere Alma-Ata, das zwar den Titel der Hauptstadt abgeben musste, aber die größte Stadt Kasachstans ist, für Touristen meist der erste Anlaufpunkt und für viele internationale Unternehmen bis heute der beliebtere Standort.
In Astana wohnen heute rund 850.000 Menschen. Die Stadt mit den wechselnden Namen – bis 1991 hieß sie Zelinograd, danach bis 1997 Akmola – macht es Bewohnern und Besuchern schon aufgrund des Klimas nicht leicht. Die Stadt liegt in einer flachen Steppenlandschaft, den heißen, trockenen Sommern stehen extrem kalte Winter gegenüber. Nach Ulan-Bator in der Mongolei ist Astana die zweitkälteste Hauptstadt der Welt. Dennoch ist Astana ein Magnet, für Studenten, Arbeitsuchende jeglicher Couleur und gut ausgebildete Experten, die nach einem Auslandsaufenthalt eine Karriere im Staatsdienst anvisieren. Von 2000 bis 2015 hat sich die Einwohnerzahl von Astana mehr als verdoppelt. Bis 2030 wird ein Anstieg auf 1,22 Mio. Menschen erwartet.
Almaty dagegen punktet durch seine Lage vor der Kulisse des Zailiyskiy Alatau, die Berge ragen direkt vor der Stadt auf bis zu 5.000 Meter auf. Die Stadt liegt allerdings auch in einer stark erdbebengefährdeten Zone. Und wegen des Autoverkehrs und der Kessellage ist die Luftverschmutzung eine der stärksten weltweit. Den kühlen Wind von den Bergen bremsen heute Bauten, die das einst planerisch gut durchdachte Stadtbild verstellen.
Almaty trägt ein Fünftel zur Entstehung des Bruttoinlandsprodukts und ein Viertel zum landesweiten Steueraufkommen bei. Offiziell zählt die Stadt rund 1,5 Mio. Einwohner, tatsächlich könnten bereits bis zu drei Millionen Menschen hier im Großraum leben. Wie Astana zieht auch Almaty Zuwanderer an, vor allem aus dem Süden des Landes und aus den nahen Nachbarländern Kirgistan und Usbekistan.
Kaufkraft und Konsumverhalten – beide Städte im Landesvergleich führend
Die derzeitig schwache Wirtschaftslage hat zu großen Einbußen bei der Kaufkraft der kasachischen Bevölkerung im ganzen Land geführt. Der Tenge hat innerhalb eines Jahres gegenüber dem Dollar mehr als 80 Prozent an Wert verloren. Hatte der durchschnittliche Monatslohn im Jahr 2013 noch umgerechnet bei rund 720 USD gelegen, so bewegt er sich aktuell nur noch bei rund 400 USD. Die höchsten Monatslöhne von rund 800 bis 1.000 USD werden dabei in den Ölregionen im Westen Kasachstans sowie in Astana und Almaty gezahlt. Der größte Teil der Mittel- und Oberschicht ist in den beiden größten Städten des Landes konzentriert.
Auch die Einzelhandelsumsätze – Indikator für das Konsumverhalten – sind 2015 deutlich zurückgegangen. Waren sie von 2010 bis 2014 noch im Schnitt um real 13,4 Prozent pro Jahr gestiegen, so sanken sie bis Dezember 2015 um 7,7 Prozent gegenüber Dezember 2014. Auf Almaty entfielen 2014 knapp 26 Prozent, ein Viertel der statistisch erfassten Einzelhandelsumsätze in ganz Kasachstan, gefolgt von Astana mit fast elf Prozent. Auch beim jährlichen Einzelhandelsumsatz pro Kopf lagen die beiden Städte 2014 mit 5.643 USD in Almaty und 4.536 USD in Astana im Landesvergleich deutlich vorn.
Astana, das administrative Zentrum
Mit der Entscheidung, die Hauptstadt aus Almaty nach Astana zu verlegen, wurde letztere zum neuen administrativen Zentrum Kasachstans. Einerseits war das neue Astana auf der linken Seite des Ischim-Flusses zu Beginn eine Art gigantisches Reißbrett, auf dem Präsident Nursultan Nasarbajews Vision einer modernen kasachischen Weltstadt Platz fand. Zum anderen benötigten all die Ministerien, staatlichen Agenturen und Behörden, dazu die wichtigsten Staatsunternehmen tatsächlich Raum und neue Amtssitze.
Seitdem sind in Astana ein neues Regierungsviertel, Einkaufs-, und Geschäftszentren, Wohnhäuser und Museen entstanden. Rund 32 Mrd. USD sind bis Ende 2013 in den Bau der Hauptstadt geflossen. Heute, fast 20 Jahre nach dem Umzug, ist Astana ein gigantisches Verwaltungszentrum. Der Weg in den Staatsdienst oder in regierungsnahe Staatsunternehmen führt immer über Astana.
Die geballte Staatsmacht ist im neu entstandenen Regierungsviertel auch visuell präsent. Das Haus der Ministerien zwischen der Präsidentenresidenz und dem Aussichtsturm Baiterek ist das längste Gebäude in Astana. Am Prachtboulevard Nurzhol auf der Achse vom Präsidentenpalast bis zum Shopping-Center Khan Shatyr, das von Sir Norman Foster entworfen wurde, finden sich unter anderem die Firmensitze des staatlichen Öl- und Gaskonzerns Kazmunaigas, der kasachischen Eisenbahn Kazakhstan Temir Zholy, der kasachischen Staatsholdings Samruk-Kazyna und Baiterek.
Auch die meisten Botschaften sind mittlerweile der kasachischen Regierung hinterhergezogen wie die deutsche Botschaft, die seit 2007 gemeinsam mit den Kollegen aus Frankreich, Großbritannien oder der Schweiz ihren Sitz in einem Business-Zentrum auf der linken Seite des Ischim hat.
Die Bankenstadt Almaty
Was für Astana die staatlichen Behörden sind, ist für Almaty der Banken- und Dienstleistungssektor. Derzeit gibt es in Kasachstan 35 Banken – darunter die größten Banken Kazkommertsbank, Halyk und Centercredit – 16 davon mit internationaler Beteiligung. Alle haben, wie die Nationalbank, ihren Hauptsitz in Almaty. Ebenso sind die meisten in Kasachstan tätigen internationalen Finanzdienstleister mit ihren Firmenrepräsentanzen in Almaty registriert, so beispielsweise auch die Deutsche Bank, die Commerzbank oder die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung.
Zentrum der Bankenstadt Almaty ist der neue Finanzdistrikt südlich der Al-Farabi-Straße, der allerdings aufgrund anhaltender Finanzierungsprobleme noch nicht komplett fertiggestellt wurde, ursprünglich aber rund viermal so groß sein sollte. Hier ist auch die kasachische Börse untergebracht.
Kaum Industrie, aber stetiger Bauboom in beiden Metropolen
Weder Astana noch Almaty sind klassische Industriestädte. Dennoch wird in beiden Städten ein nicht unerheblicher Teil der kasachischen Industrieproduktion erbracht, was vor allem an der Bauwirtschaft liegt.
In ganz Kasachstan ist der Bausektor im Jahr 2015 um 4,3 Prozent gewachsen. Grund dafür sind in erster Linie die Bauaktivitäten in Astana im Zuge der Expo 2017. In Astana entstehen das Expo-Gelände und zudem ein grünes Stadtviertel. Bis Ende 2016 sollen alle 38 Expo-Projekte, darunter 26 Bauobjekte und zwölf Infrastrukturvorhaben, fertiggestellt sein. Die Gesamtkosten für die Expo werden auf drei Mrd. USD geschätzt.
Die Expo 2017 steht unter dem Motto „Energie der Zukunft“ – damit will Astana zum Vorreiter bei der Nutzung energieeffizienter Technologien und erneuerbarer Energien werden. Auch beim Bau des 1,6 Mrd. USD teuren Abu Dhabi Plaza kommen energieeffiziente Technologien zum Einsatz.
Wichtig für die Stadt sind Investitionen in die Kommunalwirtschaft. Im Jahr 2014 wurde in einigen Stadtteilen Astanas die Mülltrennung eingeführt, und in einem Müllverarbeitungswerk der Stadt soll eine Anlage zur Gewinnung von Biogas gebaut werden. Derzeit erstellt der internationale Wirtschaftsprüfer PricewaterhouseCoopers weitere Konzepte zur Modernisierung der Abfallwirtschaft in Astana.
Im Rahmen des Konzeptes „Smart Astana“ werden neue Wasserleitungen verlegt, bei denen die Wasserverluste von 21 auf acht Prozent sinken sollen. Gebaut wird außerdem eine neue Wasseraufbereitungsanlage für 100 Mio. USD.
Almaty hatte auch auf ein internationales Großereignis gehofft, das der Stadt zu weiterer wirtschaftlicher Entwicklung verhelfen sollte. Gemeinsam mit Peking bewarb sich die Stadt um die Ausrichtung der Olympischen Winterspiele 2022 – und verlor gegen die chinesische Megacity. Zwar richtet Almaty im Jahr 2017 die Universiade, die internationalen Weltsportspiele der Studenten, aus. Die Investitionen belaufen sich allerdings nur auf rund 700 Mio. USD – nicht zu vergleichen mit den erwarteten Investitionen von 3,5 bis acht Milliarden USD für Olympia.
Dennoch gibt es weitere Investitionsprojekte in Almaty. Vor dem Hintergrund der angespannten ökologischen Lage rüstet der lokale Stromversorger die drei Wärmekraftwerke der Stadt schrittweise von Kohle- auf Gasbefeuerung um. Zudem plant die Stadt in den nächsten Jahren Investitionen von bis zu 150 Mio. USD in die Modernisierung der kommunalen Müllentsorgung.
Transport und Verkehr – Astana und Almaty suchen internationalen Anschluss
Um der Besucherströme zur Expo und weiteren Bevölkerungswachstums Herr zu werden, investiert Astana beachtliche Summen in den Ausbau seiner Verkehrsinfrastruktur. Chinesische Investoren wollen eine Leichtbahn errichten. Außerdem sind ein neuer Bahnhof, zwei Busbahnhöfe und der Ausbau des internationalen Flughafens Astana geplant. Bis zum Beginn der Expo im Juni 2017 sollen diese Vorhaben abgeschlossen sein.
Bei der Steuerung der Verkehrsströme in der Stadt soll das System „Smart Mobility“ zum Einsatz kommen. Das Intelligente Verkehrsleitsystem wurde 2014 als Pilotprojekt an sechs Straßen der Stadt eingeführt. Das System soll ebenfalls bis 2017 vollständig in Betrieb gehen.
In Almaty ist die Verkehrsinfrastruktur, die mit dem Zuwachs an Bewohnern und Fahrzeugen nicht Schritt gehalten hat, chronisch überlastet. Bislang entfallen nur rund 30 Prozent des Personentransports auf den öffentlichen Nahverkehr, und hiervon wiederum mehr als 90 Prozent auf Stadtbusse. Allerdings hat die Stadt den Fuhrpark in den letzten Jahren deutlich modernisiert und die Busse auf gasbetriebene Motoren umgestellt.
Ein weiterer wichtiger Schritt war die Eröffnung der ersten U-Bahnlinie Ende 2011. Bislang ist die Metro mit einer Länge von knapp neun Kilometern und neun Stationen noch überschaubar. Erst im Frühjahr 2015 waren die beiden letzten Stationen eröffnet worden. Bis 2019 sollen noch zwei weitere Stationen hinzukommen. Zusätzliche Entlastung sollen in den kommenden Jahren eine Leichtbahn, ein Schnellbussystem und eine 66 km lange, rund 750 Mio. USD teure Umgehungsstraße bringen.
Im internationalen Flugverkehr hat der Flughafen Almaty bisher die Nase vorn. Während hier pro Jahr rund 4,6 Mio. Passagiere abgefertigt wurden, waren es in Astana nur drei Millionen. Mit der Expo hofft Astana auf einen Anstieg der Passagierzahlen auf sieben Millionen, in Almaty werden bis 2019 neune Millionen Passagier pro Jahr erwartet. Die Hauptstadt will durch stetig zunehmende internationale Flugverbindungen ihren Status aufwerten. Bisher ist aber für Fluglinien wie Lufthansa, KLM, Turkish Airlines oder Asiana Airlines Almaty als häufiger angeflogenes Ziel noch attraktiver.
Die Marke oder das Herz Kasachstans?
Die Entscheidung, aus Astana, einem unscheinbaren Oblast-Zentrum, die neue Hauptstadt Kasachstans zu machen und damit Almaty zu deklassieren, war rein politisch. Wie auf einem weißen Blatt sollte das Bild einer modernen, international beachteten kasachischen Hauptstadt gemalt werden. Und das ist gelungen. Zwar werden die teils gigantisch überambitioniert anmutenden Bauvorhaben und Entwicklungspläne für Astana international noch immer mit Spott oder Skepsis beäugt. Doch Tatsache ist auch, international hat sich „die Marke“ Astana etabliert; wenn auch nur dank milliardenschwerer Imagekampagnen, die der kasachische Präsident das Land hat zahlen lassen.
Bisher sträubt sich die Wirtschaft, sträuben sich Intellektuelle, Mittelschicht und Kasachstan-Kenner, Almaty zugunsten Astanas aufzugeben. Zu sehr überwiegen noch die räumliche Nähe zu den Nachbarländern, die internationale Anbindung, etablierte Wirtschaftskreise, die kulturelle Vielfalt und der Charme einer gewachsenen Stadt die Standortnachteile der entfernten Hauptstadt. Almaty bleibt gefühlt die „Hauptstadt der Herzen“.
Und derzeit spielt die Weltwirtschaft den Anhängern Almatys in die Karten. Die schlechte Wirtschaftslage zwingt den Staat zu Haushaltskürzungen, viele Projekte liegen auf Eis. Auch die staatliche Zwangsförderung der Hauptstadt Astana wird davon betroffen sein. In den nächsten Jahren wird sich zeigen, wie attraktiv Astana auch mit weniger Unterstützung bleibt, wie nachhaltig es eine stabile wirtschaftliche Eigendynamik entwickeln kann. – So lange aber lebt Kasachstan noch mit zwei Hauptstädten.
Für das Goethe-Institut Kasachstan, Januar 2016, unveröffentlicht
Mit Material von Delegation der deutschen Wirtschaft für Zentralasien, GTAI, Nationalbank der Republik Kasachstan, Statistikagentur der Republik Kasachstan, Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung