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Deutsche Allgemeine Zeitung, 30.05.2008

Turssonaj will heiraten. Für eine junge Tadschikin ist das nichts besonderes – im Gegenteil. Mit 23 Jahren wird es für sie nach tadschikischer Auffassung sogar langsam Zeit. Wer als Frau in diesem Alter noch nicht unter der Haube ist, wird von den Eltern gewöhnlich sanft zur Hochzeit gedrängt, wenn nicht sogar zwangsverheiratet. Turssonajs Eltern aber sind tot, sie selbst lebt in einem Pflegeheim für körperlich und geistig behinderte Menschen. Turssonaj ist von Geburt an spastisch gelähmt. Dass sie dennoch ans Heiraten denkt – und auch sonst so ziemlich alles macht, wie andere Mädchen in ihrem Alter – spricht für den starken Willen und unerschrockenen Optimismus der jungen Frau.

Turssonaj ist so etwas wie der Star im Pflegeheim von Penjikent, im Westen Tadschikistans. Wann immer Besucher ins Pflegeheim kommen, fragen sie nach ihr. Denn Turssonaj ist für ihre Stickereien bekannt – die sie mit den Füßen fertigt.

[inspic=307,left,fullscreen,210]Die Chefin des Pflegeheims, Mokhira Amonkulowa, lotst die Gäste dann in Turssonajs Zimmer, einen Raum mit drei Betten, etwa 15 Quadratmeter groß, im zweiten Stock. Turssonaj wohnt hier mit ihrer leiblichen Schwester und einer weiteren Heimbewohnerin. Turssonajs Schwester ist Krankenschwester und arbeitet in einem Krankenhaus in Penjikent. Weil sie schwerhörig ist, lebt sie auch hier im Heim und hilft Turssonaj, wann immer es nötig ist.

Im Vergleich zu anderen Zimmern im Heim ist dieses hier fürstlich ausgestattet – mit zwei Fernsehgeräten, einem DVD-Player, einer Stereo-Musikanlage. Den Luxus hat Turssonaj erarbeitet, durch ihre Stickereien. Von ihrer Rente, die sie vom Staat bekommt, wäre das undenkbar. Turssonaj erhält 10 Somoni pro Monat, das sind etwa zwei Euro. Mit dem Sticken verdient sie sich in guten Monaten über 100 Somoni dazu.

Manchmal hat Turssonaj keine Lust, mit fremden Besuchern zu reden. „Sie hat ihre Launen”, sagt Frau Amonkulowa und bittet um Verständnis. Turssonaj kann sich nur durch Laute und ihren Gesichtsausdruck artikulieren – und der ist deutlich. An diesem Tag scheint sie bester Stimmung zu sein, sie lacht viel, flirtet geradezu, und Krankenschwester Anfisa hat viel zu übersetzen. „Wir reden usbekisch,” erklärt sie.

[inspic=309,left,fullscreen,425]Turssonaj ist als älteste von vier Schwestern geboren. Sie ist Usbekin, aber in Tadschikistan an der Grenze zu Usbekistan aufgewachsen. So lange ihre Eltern lebten, wohnte Turssonaj bei ihnen. Als die nacheinander starben, nahm sie erst einer ihrer verheirateten Schwestern bei sich auf, brachte sie dann aber vor etwa fünf Jahren ins Pflegeheim.

Die Ausstattung des Heims ist bescheiden. Die Unterstützung durch Verwandte, wie sie in Tadschikistan in Krankenhäusern üblich ist, indem die Familie Mahlzeiten vorbeibringt oder die Bettwäsche wechselt, bleibt hier aus. Denn hier leben die Menschen, die sonst keiner mehr haben will. 85 Bewohner hat das Heim – viele Alte, die an Demenz erkrankt sind, oder Kinder mit Down-Syndrom. Dennoch zeigt Frau Amonkulowa stolz die Küche samt Essensplan für eine Woche: „Wir kochen den Bewohnern drei Mahlzeiten pro Tag”. Unterstützt wird das Heim mit einem bescheidenen Budget des Khukomats in Penjikent, der Stadtverwaltung, und von internationalen Hilfsorganisationen. Im Garten des Pflegeheims stehen drei Kühe. „Wir halten uns die Tiere selbst, um die Bewohner mit Milchprodukten zu versorgen,” sagt Frau Amonkulowa. Den Bestand an Kühen möchte sie bald auf zehn Tiere aufstocken. „Was ich sehr bedauere, ist, dass wir unsere Heimbewohner nicht richtig beschäftigen können – dabei ist das doch wichtig für die Therapie.”

[inspic=308,left,fullscreen,210]Behinderte in Tadschikistan erhalten so gut wie keine Förderung. Weil sich Familien für behinderte Verwandte schämen, werden sie oft versteckt oder ausgestoßen. Auch Turssonaj ist nie zur Schule gegangen. Alles, was sie kann, hat sie sich alleine beigebracht, durch Beobachten und Ausprobieren. So wie das Sticken. Am liebsten fertigt sie Schmuckbänder für die langen Hosen an, die tadschikische und usbekische Frauen unter ihren Kleidern tragen.

Kreuzstich, schon mit den Händen ist die filigrane Arbeit nicht jedermanns Sache. Turssonaj jedoch fädelt sich selbst mit den Zehen den Faden in die Nadel, hält mit einem Fuß das Stoffband fest und stickt mit dem anderen millimetergenau – die Nadel zwischen großen Zeh und „Zeige-Zeh” geklemmt.

Zehn Somoni nimmt sie für ein Paar der Schmuckbänder. Sie verkaufen sich gut. „Wenn die Leute wissen, dass Turssonaj die Bänder gestickt hat, kaufen sie oft gleich fünf oder sogar zehn Paar,” meint Frau Amonkulowa. „Ganze Hochzeitsgesellschaften hat sie schon mit ihren Stickereien versorgt.”[inspic=305,left,fullscreen,425]

Dass Turssonaj ein Mädchen wie alle anderen ist, zeigt sie gerne. Mit Ohr- und Fingerringen, und bunten Haarspangen. Und selbstverständlich schminkt sie sich auch selbst. Den Kajalstift zwischen die Zehen geklemmt, das Gesicht tief über einen Spiegel gebeugt, zieht sie sich Lidstrich und Brauen nach und grinst dann spitzbübisch ihr Gegenüber an.

„Wir werden ihr einen Mann suchen müssen,” sagt Frau Amonkulowa. Und Turssonaj kichert verschämt und amüsiert zugleich. Den Plan zu heiraten, hat sie vorerst zurückgestellt. Sie wartet doch lieber noch ein bisschen. Ihr nächstes Ziel allerdings ist klar: Turssonaj liebt Fernsehen und möchte deshalb eine Satellitenschüssel kaufen. Dafür muss sie noch jede Menge sticken. Für einen Mann hätte sie damit sowieso keine Zeit.