Am 10. Juni beginnt in der Hauptstadt Astana die Expo 2017. Aus der einstigen sowjetischen Provinzstadt hat der kasachische Langzeitherrscher Nursultan Nasarbajew eine moderne Metropole bauen lassen.

Ein Zimmer, Küche, Bad, Balkon – 35 Quadratmeter. Fünf Menschen leben hier: Der 30jährige Dias Jorashov und seine sechs Jahre jüngere Frau Angela mit ihrem dreijährigen Sohn sowie Angelas Geschwister, 17 und 19 Jahre alt. „Wir haben Glück gehabt, diese Wohnung zu finden“, sagt Angela, 150.000 Tenge zahlt die Familie pro Monat dafür, rund 460 Franken. Für die jungen Leute ist das viel Geld, obwohl sie alle arbeiten. Dias ist Dozent für Geodäsie an der Eurasischen Universität, Angela Kindergärtnerin, Koch und Verkäuferin die beiden jüngeren.

Vom „Weißen Grab“ zur Hauptstadt

Die Gegend mit den gemauerten Wohnblöcken und viel Grün dazwischen liegt auf dem rechten Ufer des Ischim-Flusses, im alten Teil der Stadt, der früher Zelinograd und in den ersten Jahren der Unabhängigkeit Kasachstans Akmola hieß, Kasachisch für „weißes Grab“. 1998, als die kasachische Hauptstadt per Präsidentenerlass von Almaty im Süden des Landes verlegt wurde, erhielt Astana seinen heutigen Namen – zu Deutsch schlicht „Hauptstadt“.

Im Westen hat Astana noch immer den Ruf des Exotischen, Wilden, Absurden – der nicht ganz ernstzunehmende Stadt-Versuch eines post-sowjetischen Despoten. Überhaupt, Kasachstan – ein an Erdöl reiches Land, vom Nomadenleben in die Moderne katapultiert, mit einen Präsidenten auf Lebenszeit, der Nepotismus in Reinform praktiziert. Mit Staunen registrierte man, wie sich Langzeitherrscher Nursultan Nasarbajew in den vergangenen 20 Jahren, durch Öl-Milliarden finanziert, eine Hauptstadt nach seinen Vorstellungen formte. Die kleine sowjetische Provinzstadt und die unendlich weite Steppe drumherum wurden zur Projektionsfläche, bespielt von Architekten wie Sir Norman Foster und Kisho Kurokawa, die die gigantomanen Pläne eines Dubai in der Steppe tatsächlich umsetzten.

Nüchterner Blick der Bewohner

Die Bewohner von Astana sehen die Stadt um sich herum weitaus nüchterner. Die Enge, in der Dias‘ Familie lebt, führt oft zu Spannungen. Alle arrangieren sich, weil sie voneinander abhängig sind. „Viele Freunde haben wir hier nicht“, sagt Angela, „deshalb ist die Familie umso wichtiger“. Tatsächlich sind die vier nach Astana gekommen, um sich ein besseres Leben zu erarbeiten, als es die Eltern haben.

Sie stammen aus einem Dorf im Süden Kasachstans, 1.500 Kilometer von Astana entfernt, und sind damit ganz typische Zuwanderer. Offiziell hatte Astana Ende 2016 rund 872.000 Einwohner – im Jahr 1997 waren es gerade einmal 300.000. Die Hauptstadt ist ein Magnet für viele Kasachen.

„Es gibt praktisch nur zwei Städte in Kasachstan, in denen jüngere Leute eine Perspektive haben“, sagt Dias. „Almaty im Süden und eben Astana.“ Er selbst ist 2005 ganz bewusst nach Astana gegangen und nicht in das näher liegende Almaty: „Es gibt deutlich weniger Korruption“, ist er überzeugt. „Im Süden nehmen alle in exponierten Positionen Schmiergelder – Lehrer, Ärzte. Bürgermeister. Wenn du dich dem verweigerst, schaut dich selbst die eigene Familie schief an. – Das wollte ich nicht.“ Hier halte man sich eher an Gesetze, weil die Staatsgewalt einfach präsenter sei, meint Dias.

Probleme Kasachstans machen vor Astana nicht Halt

Das sieht auch Firmin Van Haelst etwas anders. Der 49jährige Belgier arbeitet als Consultant im Baugeschäft in Kasachstan, seit 2010 ist er in Astana. Er hat die Stadt um sich herum wachsen sehen – und zahlreiche Korruptions-Skandale höchster Staatsbeamter erlebt. Geschäfte in Kasachstan zu machen sei schwierig, sagt Van Haelst. „Die Kasachen wollen gerne groß und schnell bauen“, sagt er. „Aber Qualität kostet. Und wenn es dann um Geld geht, werden Projekte gern abgespeckt oder plötzlich mit ganz anderen Partnern umgesetzt.“

Der Bauboom in Astana ist bis heute ungebrochen, die Stadt wächst mit rasender Geschwindigkeit. Lag die „Pyramide des Friedens und der Eintracht“, ein Kongress- und Ausstellungszentrum, vor wenigen Jahren noch weit vor der Stadt, ist sie heute von Wohnmassiven und Luxus-Apartmenthäusern, neuen Museen, Moscheen und Shoppingcentern umgeben.

Bagdan Musayev (Name geändert) ist jeden Tag mit seinem Taxi auf den riesigen Magistralen Astanas unterwegs. Die Stadt zu Fuß zu bewältigen ist kaum möglich, die Entfernungen sind enorm, die Straßen sechs-, achtspurig. Auf der Mittelkonsole seines staubigen Audi A6, der mindestens 15 Jahre alt ist, hat Bagdan ein Hochzeitsbild verstaut und zeigt es bereitwillig. „Anfang Mai haben wir geheiratet“, erzählt er stolz. Neben dem Hochzeitsbild liegt in einer zerknitterten Klarsichtfolie die Kopie seines Abschlusszeugnisses, erst wenige Tage alt. „Wegen der Expo haben sie uns noch ganz schnell die Prüfungen machen lassen, wir mussten alle etwas dafür bezahlen, aber wer weiß, wann wir das Zeugnis sonst bekommen hätten.“

Einkommen reichen selten zum Leben

Er sei Chirurg, erzählt Bagdan, seine Frau Krankenschwester auf einem Notarztwagen. Beide seien aus unterschiedlichen Landesteilen hierhergekommen, hätten sich beim Studium kennengelernt. Ob er allerdings jemals als Arzt arbeiten werde, weiß er nicht. In seinem Beruf – wenn er denn eine Stelle bekäme – verdiene er pro Monat rund 60.000 Tenge (ca. 185 Franken), mit dem Taxi dagegen 10.000 Tenge pro Tag. „Aber man will sich ja irgendwann eine eigene Wohnung leisten können, und Kinder wollen wir auch haben.“

Für viele Bewohner in Astana sind die Wohnungen im neuen Teil der Stadt unerschwinglich. Der 30jährige Assylzhan Ismailov (Name geändert) hat dennoch gleich drei davon. Alle liegen rund um das Zentrum des neuen Astana, unweit des Baiterek-Turms, zwischen dem Präsidentenpalast mit dem riesigen Sporn auf dem Dach und dem futuristischen Kuppelzelt Khan Shatyr. Ismailov vermietet die Wohnungen tageweise an Touristen – „das lohnt sich mehr, als langfristige Mietverträge mit Ausländern“.  Ismailov arbeitet in der staatlichen Brandschutzbehörde, überprüft, ob bei Neubauten die Verordnungen eingehalten werden. Er selbst wohne im alten Teil der Stadt – „weil es dort schöner ist“. Wie er das Geld für die Wohnungen zusammenbekommen hat, will er nicht verraten. „Sie gehören meiner Familie und ich kümmere mich um die Vermietung“, erzählt er ausweichend auf die Nachfrage hin.

Astana ist eine Beamtenstadt. Der Staat mit seinen Ministerien und Behörden ist der wichtigste Arbeitgeber. Wer Karriere im Staatsdienst machen will, muss hierher kommen. Vor allem die Bewohner der alten Hauptstadt Almaty, bis heute Finanz- und kulturelles Zentrum Kasachstans, rümpfen deshalb die Nase über Astana. Das Wetter sei zu schlecht – im Winter wird es bis zu minus 40 Grad kalt, es gebe keine Kultur in Astana, selbst im Staatsdienst arbeite man sechs Tage die Woche, es ginge nur um Geld.

Noch keine Liebe, aber Anerkennung

Tatsächlich sieht die Technik hinter den glitzernden Fassaden der Wolkenkratzer im neuen Zentrum nicht immer vertrauenerweckend aus – lose Kabel hängen aus den Wänden, Fenster im 30. Stock sind zum Teil mit Pappe verklebt, längst nicht alle Apartments und Büros sind vermietet oder besetzt. Wie viele Milliarden beim Bau der Metropole versickert sind, wird nie ans Licht kommen.

Und dennoch ist Astana – trotz aller Probleme – eine lebenswerte Stadt geworden. Der belgische Consultant Van Haelst lobt den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, „auch per Bus kann ich mittlerweile alle Ecken der Stadt bequem erreichen“. Der junge Familienvater Dias wüsste keinen besseren Ort in Kasachstan, um seinem Sohn eine Perspektive zu bieten. Der Taxi-fahrende Chirurg Bagdan wird mit seiner Frau gerade sesshaft.

Einheimische und Zugezogene haben die Stadt angenommen. Die Begeisterung für den eigenen Wohnort hält sich bei vielen noch in Grenzen, von Liebe ganz zu schweigen. Aber die Menschen sind da. Und die meisten werden bleiben.

Der Artikel erschien in einer gekürzten Fassung am 04.06.2017 in der Sonntagsausgabe der Luzerner Zeitung