Dass im Vorfeld der Präsidentschaftswahl in Kirgistan noch kein Sieger feststeht, gilt im postsowjetischen Zentralasien als spektakulär. Doch in Kirgistan, oft als «Insel der Demokratie» verklärt, ist die Angst vor dem autokratischen Rückschritt gross.

Eigentlich hatte Rita Karasartova Präsidentin von Kirgistan werden wollen. Doch daraus wird nun nichts. Die 41-jährige Chefin des Instituts für Gesellschaftsanalyse, einer Nichtregierungsorganisation in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek, war als eine von mehr als 50 Bewerbern für das Präsidentenamt angetreten. Für die Registrierung wären 30 000 Unterschriften von Wahlberechtigten nötig gewesen. «Die hatten wir zusammen, sogar ein bisschen mehr», sagt Karasartova. «Aber die Zentrale Wahlkommission hat 4500 der Unterschriften für ungültig erklärt – so waren wir noch vor Aufstellung der endgültigen Kandidatenliste aus dem Rennen.» Die Menschenrechtlerin erlangte ihre Popularität in Kirgistan über die sozialen Medien. Sie hegt den Verdacht, man habe im Vorfeld absichtlich die Kriterien für die Registrierung nicht genau definiert, um weniger Bewerbern den Zugang zu den Wahlen zu ermöglichen. «Wir haben aber beschlossen, die Entscheidung nicht anzufechten», sagt sie. «Jetzt kämpfen wir für faire Wahlen.» Auch solche Niederlagen, das weiss Karasartova, gehören zu einer im Wachstum befindlichen Demokratie.

Für Kirgistan, der Ex-Sowjetrepublik mit knapp sechs Millionen Einwohnern, sind solche demokratischen Prozesse noch längst nicht selbstverständlich. Am 15. Oktober wählen die Kirgisen einen neuen Präsidenten – und erst zum zweiten Mal in der 26-jährigen Unabhängigkeit des Landes steht nicht im Voraus fest, wer auf das amtierende Staatsoberhaupt folgen wird. Kirgistans derzeitiger Präsident Almasbek Atambajew war 2011 gewählt worden. Nach dem gewaltsamen Sturz seines Vorgängers Kurmanbek Bakijew im April 2010 hatte Kirgistan einen konstitutionellen Umbau des Landes in Gang gesetzt, an dessen Ende sich das Land per Verfassungsreferendum zu einer parlamentarischen Demokratie erklärte. Im Oktober 2011 fanden erstmals freie Präsidentschaftswahlen statt. Die Amtszeit des Präsidenten wurde auf sechs Jahre begrenzt. Atambajew kann deshalb bei den Wahlen in diesem Jahr nicht mehr antreten.

Zur Wahl stehen ein Vertreter der alten Eliten – und ein Oligarch

Eine Woche vor den Wahlen sind noch mehr als zehn Kandidaten im Rennen, lediglich zwei gelten als aussichtsreich: Sooronbay Jeenbekow war bis Ende August Premierminister und verliess die Regierung, um als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen antreten zu können. Er gilt als Interessenvertreter Atambajews, dessen Sozialdemokratischer Partei Kirgistans er angehört. Als Repräsentant der bisherigen Regierung hat Jeenbekow den Staatsapparat und dessen Ressourcen hinter sich. Sein Kontrahent, der Milliardär Omurbek Babanow, kann hingegen den Wahlkampf mit einem Millionenaufwand betreiben. Der ehemalige Premierminister und Chef der Partei Respublika Ata Zhurt ist einer der grössten Oligarchen des Landes und wird von vielen Oppositionellen unterstützt.

Wie auch immer der Wahlkampf ausgeht: Kirgistan, eines der ärmsten Länder im GUS-Raum, steht vor enormen Problemen. Dem IWF zufolge betrug das Bruttoinlandprodukt (BIP) im Jahr 2016 7,7 Milliarden US-Dollar. Die Arbeitslosenquote lag 2016 nach offiziellen Angaben bei 7,5 Prozent, tatsächlich dürfte sie aber noch deutlich höher sein. Das Land ist abhängig von Rücküberweisungen durch kirgisische Arbeitsmigranten im Ausland. Im Jahr 2016 betrugen die allein durch die kirgisische Nationalbank erfassten Zahlungen knapp zwei Milliarden US-Dollar und damit knapp ein Drittel des BIP.

Auch die 16-jährige Djamila will weg aus Kirgistan. Sie verkauft Männermode auf dem Osch-Basar in Bischkek, dem grössten Markt des Landes. «Mein älterer Bruder lebt in Moskau, er sagt, ich könne nachkommen und dort als Köchin arbeiten.» Djamila stammt aus Naryn im Süden, wo es noch weniger Arbeit gibt als in der Hauptstadt. Für immer weg aus Kirgistan will sie nicht. Ihr Traum: «Ein paar Jahre Geld verdienen in Russland und dann zurück, um eine eigene Familie zu gründen.»

Wenn Sumsarbek Obbo Mamyraly solche Geschichten hört, wird er wütend. «Was unseren Landsleuten in Russland widerfährt, ist Sklaverei.» Viele Arbeitsmigranten lebten in Russland unter schlimmsten Bedingungen, seien täglichem Rassismus ausgesetzt, nicht selten käme es gar zu Arbeitsunfällen mit Todesfolge. «Ganze Familien verlieren so ihr Einkommen, meist ohne jegliche Entschädigung.» Mamyraly betreibt in Bischkek ein Restaurant und eine Näherei. Allein im vergangenen Jahr habe er Arbeitsplätze für zwölf junge Frauen geschaffen, sagt Mamyraly. «Tatsächlich sind das nicht einfach Arbeitsplätze. Ich habe das Leben dieser Frauen gerettet.»

Mamyraly glaubt, dass sich Kirgistan von den totalitären Regimen in der Nachbarschaft unterscheide. «Hier entwickelt sich eine freie Marktwirtschaft, die nicht staatlich reguliert wird, wie in Usbekistan oder Tadschikistan.» Dennoch sei Korruption weithin verbreitet. «Sobald dein Geschäft gut läuft, will jemand aus einer staatlichen Behörde mitverdienen.» Sich dagegen gerichtlich zur Wehr zu setzen, ist so gut wie unmöglich. Die Strafverfolgungsbehörden sind selbst korrupt, weiss Valeriyan Vahitov. Der Anwalt arbeitet in Osch im Süden Kirgistans als Rechtsberater bei der NGO Bir Duyno. «Die mangelnde Rechtsstaatlichkeit ist eines der grössten Probleme hier», sagt Vahitov. «Die Gerichtsbarkeit arbeitet nach quantitativen Vorgaben von oben. Soundso viele Morde müssen pro Jahr aufgeklärt werden, soundso viele Islamisten überführt.»

Furcht vor neuen blutigen Zusammenstössen

Das Umfeld von Vahitov ist politisch hochsensibel. Viele seiner Klienten sind Usbeken. Hier in Osch entluden sich wenige Wochen nach dem Sturz des damaligen Präsidenten Kurmanbek Bakijew im Jahr 2010 Konflikte zwischen Kirgisen und der usbekischen Minderheit in blutigen Zusammenstössen, die mehreren hundert Menschen das Leben kosteten. Heute leben Kirgisen und Usbeken in Osch wieder friedlich miteinander – man gehe sich aber aus dem Weg, sagt Vahitov. «Die Usbeken fürchten jeglichen Kontakt mit staatlichen Behörden, denn diese sind in der Regel mit Kirgisen besetzt.» Er kennt mehrere Fälle, bei denen Usbeken unbegründet Straftaten vorgeworfen wurden, um von der Familie Geld zu erpressen. Auch kritische Medien – die in Kirgistan bisher relativ frei arbeiten konnten – wurden in den Monaten vor den Präsidentschaftswahlen zunehmend eingeschränkt. Dem einzigen unabhängigen Fernsehsender Sentyabr wurde im August die Sendelizenz entzogen – Grund war ein live übertragenes Interview mit einem ehemaligen regionalen Polizeichef. Gegen den Journalisten Ulugbek Babakulov wurde Anklage wegen «Anstiftung zu Hass zwischen ethnischen, religiösen oder regionalen Gruppen» erhoben, weil er über die Benachteiligung von Usbeken durch kirgisische Behörden berichtet hatte. Babakulov floh daraufhin aus Kirgistan.

Das Bekenntnis zur Demokratie scheint in Kirgistan in den vergangenen Jahren eine deutliche Abnutzung erfahren zu haben. Ist das Land tatsächlich noch die «Insel der Demokratie» in Zentralasien, als die es der Westen gern verklärt? «Ja», sagt Alexander Wolters, «wenn es nach dem ergebnisoffenen Ausgang der anstehenden Wahlen geht.» Der Soziologe, der seit mehreren Jahren an Universitäten in Kirgistan lehrt, sieht dennoch eine grosse Schwäche bei der Umsetzung demokratischer Prinzipien in Kirgistan. «Nach den Wahlen müssen die in staatliche Ämter gewählten Akteure viel zu viele Bedürfnisse partikularer Interessengruppen befriedigen. Der informelle Druck, Positionen zu besetzen, jemandem Stellen und Aufträge zu verschaffen, ist so gross, dass keine Ressourcen bleiben, um die eigene politische Reformagenda tatsächlich umzusetzen.»

Reformen aber sind in Kirgistan dringend notwendig. Wenn Arbeitsmarkt, Rechtsstaatlichkeit oder Pressefreiheit nicht auch demokratischen Prinzipien entsprechen, wird die junge Demokratie in Kirgistan wohl in den Kinderschuhen stecken bleiben.

Der Artikel erschien am 07.10.2017 in der Luzerner Zeitung