Nach dem Sturz von Präsident Bakijew im April und den blutigen Unruhen im Juni wählen die Bürger am 10. Oktober ein neues Parlament. Doch alte Konflikte bleiben.

Vor dem Parlamentssitz im Zentrum der kirgisischen Hauptstadt Bischkek wird demonstriert – wieder einmal. Die Protestbereitschaft in dem kleinen zentralasiatischen Land ist groß, seitdem im April der Präsident Kurmanbek Bakijew gestürzt wurde. Zwischen Spruchbändern und ein paar Zelten stehen rund 150 Bürger, seit ein paar Tagen schon kampieren sie hier – ungehindert von der Polizei. Unter Führung einer jungen Frau mit Megafon skandiert die Menge immer wieder „Freiheit, Freiheit“. Die Menschen sind aufgebracht, sie wollen mit Rosa Otunbajewa persönlich reden, der derzeitigen Präsidentin Kirgisistans und Chefin der Übergangsregierung. Doch die ist gerade nicht zu sprechen, und auch sonst hat offensichtlich niemand aus der Regierung Zeit – es ist Wahlkampf in Kirgisistan. An diesem Sonntag wählen die Bürger ein neues Parlament.

Den Demonstranten sind die Wahlen egal. „Wir stehen hier, weil wir Freiheit für unsere Männer und Söhne fordern“, erklärt die junge Frau mit dem Megafon. Seit einigen Wochen sind ihre Verwandten in Haft – Angehörige des Sonderkommandos Alpha, verurteilt, weil sie zu jenen Einsatzkräften gehörten, die am 7. April im Auftrag Bakijews das Feuer auf Demonstranten in Bischkek eröffneten. Tausende Kirgisen waren in der Hauptstadt auf die Straße gegangen, um gegen gestiegene Strom- und Gaspreise und gegen korrupte Vetternwirtschaft zu protestieren. Bakijew ließ schießen, 86 Menschen starben. Am selben Tag wurde der Präsident abgesetzt und eine Übergangsregierung um Rosa Otunbajewa gebildet. Das Land geriet in heftige Turbulenzen, ein Bürgerkrieg drohte.

Die Interimsregierung Otunbajewas bemüht sich seitdem, Kirgisistan wieder zu stabilisieren. Doch für die Demonstranten am Parlamentsgebäude ist die Verhaftung der Todesschützen vom 7. April ein Indiz dafür, dass auch diese Regierung ohne rechtliche Grundlage handelt. „Unsere Männer haben doch nur Befehle ausgeführt“, ruft eine Frau. Ein Mann wirft den Rechtsschutzorganen vor: „Keiner der Männer hat ein ordentliches Gerichtsverfahren bekommen. Man hat die Soldaten als Bauernopfer in den Knast gesteckt, nur um den Familien der Toten zu zeigen, dass überhaupt etwas getan wird.“ Die Übergangsregierung ist für die Demonstranten so wenig glaubwürdig, wie es die Politiker der vergangenen Jahre waren. Zur Wahl wollen sie auf keinen Fall gehen: „Am Ende sitzen doch wieder nur Leute der Bakijew-Regierung im Parlament!“

Eigentlich soll die anstehende Parlamentswahl den politischen Neuanfang bringen. Ende Juni hatte die Mehrheit der Kirgisen per Referendum für eine neue Verfassung gestimmt. Die gibt Parlament und Regierung mehr Vollmachten, der Präsident verliert an Entscheidungsgewalt. Präsident und Ministerpräsident müssen Entscheidungen künftig aushandeln. Eine funktionierende parlamentarische Demokratie in Kirgisistan? Daran zweifelt nicht nur der russische Präsident Dimitri Medwedjew, auch die zentralasiatischen Nachbarn sind skeptisch.

Dass es ausgerechnet in Kirgisistan zu einem solchen politischen Novum in Zentralasien kommt, ist wenig erstaunlich. Das winzige Hochgebirgsland, eine der ärmsten Ex-Sowjetrepubliken ohne nennenswerte Öl- und Gasreserven wie die Nachbarn Kasachstan und Usbekistan, aber mit einer Arbeitslosigkeit von bis zu 30 Prozent, hat in den vergangenen 20 Jahren bewegte Zeiten erlebt. Während in Kasachstan, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan seit der Unabhängigkeit im Jahre 1991 Ex-Kader der Kommunistischen Partei diktatorisch herrschen, ist die kirgisische Gesellschaft viel stärker politisiert. Unter bisher jeder Regierung gab es eine starke Opposition, die Meinungsfreiheit ist größer als in den Nachbarstaaten. Politische Umbrüche stehen fast auf der Tagesordnung.

So wurde bei der Tulpenrevolution im Jahr 2005 der damalige Präsident Askar Akajew nach Protesten der Bevölkerung abgesetzt. Als sein Nachfolger Bakijew staatliche Strukturen und Ämter immer unverhohlener unter Mitgliedern seines Familienklans aufteilte und sich internationale Hilfszahlungen in die Tasche steckte, während die Wirtschaft am Boden lag, gingen die Kirgisen wieder auf die Straße.

Lange galt das Land deshalb als Kandidat für einen demokratischen Weg. Doch die Ereignisse im Anschluss an den Sturz Bakijews zeichneten ein anderes Bild. Im Juni eskalierten in Osch und Jalalabad im Süden Kirgisistans Angriffe auf die usbekische Minderheit. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen starben bei den Auseinandersetzungen mehr als 2000 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder. Die Übergangsregierung um Rosa Otunbajewa erwies sich als machtlos, eine Woche lang war die Lage in Südkirgisistan außer Kontrolle. Fast 400 000 Usbeken flüchteten Richtung Usbekistan.

Klar ist heute, die ethnischen Konflikte im Fergana-Tal, dem Dreiländereck zwischen Kirgisistan, Usbekistan und Tadschikistan, wurden gezielt instrumentalisiert. Anhänger von Ex-Präsident Bakijew, der selbst aus Südkirgisistan stammt, und andere kriminelle Gruppierungen trachteten danach, das Land zu destabilisieren und die Übergangsregierung vorzuführen. Obwohl sich die Lage mittlerweile stabilisiert hat, seien die innenpolitischen Konflikte in Kirgisistan aber längst nicht ausgestanden, meint der Kirgisistan-Experte Alexander Knjasew vom Institut für politische Lösungen im kasachischen Almaty: „In Südkirgisistan bestimmen die Usbeken die wirtschaftliche Sphäre, den Handel, die Landwirtschaft. Die Kirgisen dagegen besetzen Verwaltungsstellen und staatliche Organe. Das führt zwangsläufig zu Auseinandersetzungen, denn die Usbeken fühlen ihre Interessen durch die Kirgisen nicht ausreichend vertreten.“ Bisher, so Knjasew, habe es auch die Übergangsregierung versäumt, die Usbeken – mit rund 15 Prozent die größte Minderheit – in politische Prozesse einzubinden. Vielmehr schüre sogar Präsidentin Otunbajewa das Nationalbewusstsein und betone die Führungsrolle der Titularnation.

Auch der Konflikt zwischen Nord- und Südkirgisistan scheint wieder aufzubrechen. Der Norden ist wirtschaftlich besser erschlossen und russlandnäher, denn hier lebt bis heute ein Großteil der russischen Minderheit. Der Süden ist stark muslimisch geprägt. In der nationalen Politik fühlen sich die südlichen Kirgisen oft unterrepräsentiert. Als Bakijew 2005 an die Macht kam, war er der erste Präsident aus dem Süden. Viele hatten damals gehofft, dass er die Diskrepanzen zwischen den Landesteilen würde ausgleichen können.

Die Übergangsregierung ist den Anhängern Bakijews aus dem Süden des Landes nun erneut ein Dorn im Auge. Der Bürgermeister von Osch, Melisbek Myrsakmatow, ein nationalistischer Hardliner, erfreut sich daher großer Popularität und weigert sich vehement, Entscheidungen der Übergangsregierung anzuerkennen. So lehnte er die Stationierung einer Eingreiftruppe der Organisation für Sicherheit und Zuzsammenarbeit in Europa (OSZE) in Osch ab und weigerte sich, seinen Posten als Bürgermeister aufzugeben, als die Übergangsregierung ihn absetzen wollte.

Zudem hat sich im Zuge der kirgisisch-usbekischen Auseinandersetzungen ein islamistisches Lager formiert. So hat die Islamische Bewegung Usbekistans, bisher ohne nennenswerten Einfluss in Kirgisistan, zum Dschihad gegen die kirgisische Regierung aufgerufen. Dass die Extremisten Zulauf haben und sich in Kirgisistan eine Dschihadbewegung gebildet hat, die in ganz Zentralasien an Einfluss gewinnen kann, hält Knjasew für „eine adäquate Antwort auf die unzulängliche Reaktion der kirgisischen Führung“.

Dennoch ist der Politikwissenschaftler optimistisch, dass die Wahl das politische Klima ändern wird: „Die 29 Parteien führen einen relativ sachlichen Wahlkampf, eine Schlammschlacht gab es bisher nicht.“ Und trotz negativer Erwartungen ist es vor den Wahlen zu keinerlei Unruhen gekommen.

Rheinischer Merkur, 08.10.2010