Salzburger Nachrichten, 16.06.2010

Marodierende Banden halten den Süden des Landes in Schach. Hunderte Menschen verloren ihr Leben. Ein Augenzeugenbericht aus Osch.In den vergangenen Tagen hat Alisher in den Straßen von Osch Dutzende Tote gesehen, darunter auch seinen Schwager. Der wurde von einem vorbeifahrenden Auto aus erschossen, gerade als er nach dem Freitagsgebet aus der Moschee kam. „Dass es in ganz Südkirgistan nur etwas über hundert Tote geben soll, ist völlig unrealistisch, es müssen Hunderte sein“, sagt Alisher. „Allein hier bei uns im benachbarten Viertel sind mehr als 80 Usbeken ermordet worden. Ich habe selbst verkohlte Babyleichen gesehen.“

Nur neun Kilometer sind es von Alishers Haus bis zur usbekischen Grenze. Vor allem Frauen und Kinder sind dorthin geflüchtet. Laut UNO-Schätzungen sind rund 100.000 Menschen auf der Flucht, Doch viele haben nur im Niemandsland zwischen Kirgistan und Usbekistan Zuflucht gesucht, denn sie wollen eigentlich in Kirgistan bleiben. Auch Alisher ist entschlossen, Kirgistan nicht zu verlassen. „Osch ist meine Heimat, hier bin ich geboren“, sagt der 43-jährige Usbeke. „Was soll ich denn in Usbekistan?“ Seinen richtigen Namen will Alisher nicht in der Zeitung sehen, und er hat sogar davor Angst, dass ihm das Gespräch per Mobiltelefon gefährlich werden könnte. Er ist einer der rund 120.000 ethnischen Usbeken mit einem kirgisischen Pass, die in Osch leben. Sie stellen rund 54 Prozent der Bewohner der Stadt. Etwa 15 Prozent der Bevölkerung von Kirgistan sind Usbeken, sie sind die größte ethnische Minderheiten in dem zentralasiatischen Land. Die jüngste Gewalt, die Morde an Frauen und Kindern, die Brandschatzungen an usbekischen Häusern haben die Einwohner von Osch in einen Schock versetzt. „Häuser und Geschäfte von Usbeken wurden gekennzeichnet und zum Abschuss freigegeben“, erzählt Lodgewar Sarifbekowa, 38 Jahre alt und Tadschikin. Sie lebt seit ein paar Jahren mit ihren beiden Kindern und der Mutter in Osch, ihr Mann arbeitet in Moskau. Lodgewar ist entsetzt über die Aggressivität der bewaffneten und maskierten Banden, „die eindeutig Kirgisen waren. Sie haben auf Kirgisisch Befehle gebrüllt und die Leute aus den Häusern getrieben.“

Alisher wohnt mit seiner Familie in einer Machallah, einem usbekischen Stadtviertel. Hier harren er, sein Bruder und ein paar andere Männer aus, um die Häuser zu schützen. Frauen und Kinder haben sie an einen, wie sie sagen, „relativ sicheren“ Ort untergebracht.

Für Lodgewar Sarifbekowa ist es undenkbar, ihr Haus in Osch zu verlassen. Die Tadschikin fürchtet ebenso um ihr Leben wie die Usbeken, denn „wir sehen den Usbeken sehr ähnlich und fürchten, allein deswegen angegriffen zu werden.“ Sarifbekowa und ihre Familie haben sich in einem fünfstöckigen Wohnblock an der Hauptstraße von Osch verschanzt. Kontakt zur Außenwelt haben sie per Telefon und durch ein paar hilfsbereite kirgisische Nachbarinnen. „Die können sich noch frei bewegen und haben uns Brot gebracht“, sagte Lodgewar, „zwei Stück pro Familie, egal wie viele Personen.“ Wasser und Gas wurden schon vor Tagen abgestellt, Strom gibt es nur tagsüber.

Die Versorgung wird immer schwieriger, obwohl humanitäre Hilfslieferungen nach Osch geflogen wurden. Doch die erreichen ihr Ziel nicht. „Wir sind in unserer Straße eingekesselt. Wie sollen wir an irgendwelche Hilfslieferungen kommen?“, fragt Alisher. Die Kirgisen hätten die Lieferungen sicher am Flughafen unter sich aufgeteilt, vermutet er. Von den Sicherheitskräften erwartet er keine Unterstützung. Die bewaffneten Banden seien immer noch in der Stadt unterwegs.

Eine offizielle Anweisung aus Bischkek wurde per SMS versandt: Nach 18.00 Uhr dürfe niemand mehr auf der Straße sein. Wer dem zuwiderhandele, auf den würden die Sicherheitskräfte schießen, egal welcher Nationalität, und ohne Vorwarnung.